„Ich fühlte mich wie ein offenes Messer“

Gespräch mit Chris Paul, Trauerbegleiterin, Autorin und Trauernde

Ich habe Chris Paul in Hamburg kennen gelernt. Wir hatten beide einen Miniworkshop zum Thema Umgehen mit Trauer auf einem Kongress zum Thema. Ich war tief beeindruckt von der Qualität ihrer Arbeit und sehr inspiriert von ihrer spielerischen und kompetenten Darbietung, die sie uns in den Räumen von Sylvia Kolk in Ottensen bot. Chris hat einige Bücher zum Umgang mit Trauer geschrieben – eine große Expertin mit viel Herz und Verstand. Ihre Bücher gehören meiner Meinung nach zum Besten, das es zum Thema gibt. Chris integriert in ihre Arbeit rund um das Thema Trauer ihr Know-How als Kulturschaffende, Sängerin, Autorin. Sie stellt ihre neuen Bücher mit einem Vortragskonzert vor – für sie eine  beglückende Erfahrung, in der sie ihr Multitalent entfalten kann.

Chris Paul

Liebe Chris,

du hast umfangreiche Erfahrungen und viel Kompetenz in der Trauerbegleitung erworben und dazu etliche hilfreiche Bücher geschrieben. Angehörige, die einen Menschen verloren haben, der sich das Leben nahm, sind in einer besonders schwierigen Situation. Du beschreibst in deinem Buch „Warum hast du uns das angetan?“ zu Beginn die Traueraufgaben. Kannst du sie für uns kurz benennen?

Inzwischen nenne ich diese verschiedenen Aspekte oder Grunderfahrungen im Trauerprozess nicht mehr Traueraufgaben, sondern Trauerfacetten. Es geht darum zu verstehen, dass Trauer kein gerader Weg ist, bei dem man an jedem Gefühl oder Gedanken nur ein einziges Mal vorbeikommt. Die einzelnen Facetten begegnen uns vielmehr über viele Trauerjahre hinweg immer wieder. Das ist das schlichte Überleben. Das sind immer wieder neue auftauchende und vielfältige Gefühle. Das ist die Auseinandersetzung wie man versteht, dass jemand wirklich tot ist (Wirklichkeit). Da sind aber auch die Auseinandersetzung mit der Umwelt und die Anpassung an die vielen Veränderungen im eigenen Leben. Schließlich die Suche nach einer Verbundheit mit dem Verstorbenen über seinen Tod hinaus (Verbundenbleiben). Und dann die vielen Fragen nach Sinn und Bedeutung des Geschehenen (Einordnen).

Welche besonderen Aufgaben kommen auf die Angehörigen von Suizidierten zu?

Suizidhinterbliebene müssen sich mit denselben Themen auseinandersetzen, wie alle anderen Trauernden. Ihr Weg wird aber oft erschwert durch verschiedene Faktoren. Da ist das Tabu, das immer noch auf der Todesart Suizid liegt, da sind möglicherweise traumatisierende Todesumstände und das sind die vielen Fragen nach dem „Warum?“.

Suizid ist ein besonders tabubesetztes Thema. Wie wirkt sich das auf die Trauer aus?

Es hat sich viel verändert – Suizidverstorbene werden heute kirchlich beerdigt, in der Presse wird wertschätzend über die Verstorbenen gesprochen. Da wirken die Tabus der vergangenen Jahrzehnte nicht mehr. Auch in den Köpfen der Menschen sind es aus meiner Sicht heute weniger Tabus als eine Mischung aus Unwissenheit, Vorurteilen, Angst und auch Faszination. Suizid ist eine Möglichkeit menschlichen Handelns; wir alle und alle, die wir lieben, sind dazu in der Lage. Das ist eine beängstigende Tatsache. Jeder hat eine Meinung dazu und möchte darüber diskutieren, ob „man das darf“ oder dass „man das nicht tut, wenn da nicht irgendwas in der Familie gewesen ist“. Das kann dazu führen, dass Suizidhinterbliebene sich unentwegt mit Meinungen und Werten auseinandersetzen – in ihrem eigenen Kopf aber auch im Gespräch mit anderen. Der Trauerprozess in seiner Gesamtheit gerät dabei aus dem Blick.

Warum wählst du den Begriff Suizid und nicht Selbstmord und Freitod?

Selbstmord ist ein abwertender Begriff, darin steckt das Wort „Mord“ und das kann man nicht mit respektvollen akzeptierenden Erinnerungen verbinden. Der Begriff „Freitod“ wertet auch, aber eben nicht negativ sondern positiv, das darin enthaltende Wort „Frei“ ist sehr positiv besetzt. Ich benutzte Begriffe, die einfach nur beschreiben, dass jemand sich selbst getötet hat, ohne das zu verurteilen oder zu verklären.

Du hast deine Partnerin vor etlichen Jahren verloren, weil sie sich selbst tötete. Wie hast du den Verlust-Schmerz erlebt? Was war besonders schwer? Was hat dir geholfen?

Ich hatte im ersten Jahr das Gefühl, ich sei wie ein offenes Messer, das sich ständig selbst schneidet, es gab einfach nichts außer Schmerz. Und trotzdem habe ich gelebt, gearbeitet, sogar wieder geliebt. Menschen habe ich gebraucht, ihre einfache Anwesenheit, und wenn jemand bereit war, über Trauer und über meine tote Liebste mit mir zu sprechen, war das gut! Rückblickend war ich lange mit der Facette „Überleben“ beschäftigt . Das ganze Ausmaß meiner Verstörung habe ich erst in den folgenden Jahren begriffen. Neue Trennungen und Abschiede haben mich dann quasi gezwungen, mich mit der Trauer um Beverley zu beschäftigen. Ich habe eine Erzählung über unsere Geschichte geschrieben und die Lesungen daraus, die Rückmeldungen von anderen Trauernden haben mich sehr getröstet. Schließlich habe ich beschlossen, Trauerbegleiterin zu werden, das war 12 Jahre nach ihrem Tod, und das Lernen über Trauer, Trauertheorien und Trauerbegleitung war ein weiterer wichtiger Schritt für mich. Die Mitarbeit in der  Selbsthilfeorganisation AGUS e.V. (Angehörige um Suizid) ist seit vielen Jahren ein wichtiger Ankerpunkt für mich. Dort bin ich mehr als die Trauerbegleiterin, die Menschen dort sehen auch voller Mitgefühl und Sympathie meinen Trauerweg und das tut immer wieder gut.

Du schreibst, dass Menschen, die sich suizidiert haben, Respekt verdienen für ihre Entscheidung. Sind Angehörige damit nicht überfordert? Wie ging es dir damit?

Ich finde, dass Menschen immer Respekt verdienen. Das heißt nicht, damit einverstanden zu sein, was sie tun oder fühlen. Es heißt aber, sie ernst zu nehmen. Suizidhinterbliebene sind manchmal so voller Mitleid mit den Verstorbenen, dass sie gar nicht mehr sehen können, dass das auch ein wundervoller Mensch gewesen ist. Mitleid kann genauso respektlos sein wie Verurteilung und Gewalt. Deshalb spreche ich von Respekt, weil er den Blick schärft und verhindert, dass wir andere reduzieren.

Ich selbst habe das tatsächlich sofort verstehen können, dass Beverley sich das Leben genommen hat, weil sie es schon mehrfach versucht hatte und weil sie in einer Krise steckte. Selbsttötung war für sie eine Lösungsmöglichkeit, das wusste ich und damit hatte ich gelebt. Für sie und aus ihrer Sicht konnte und kann ich das respektieren. Für mich und aus meiner Sicht denke ich heute noch manchmal – hättest du das nicht irgendwie anders lösen können?

Ich habe erlebt, dass Schuldgefühle noch Jahre nach dem Suizid einer Mutter das Leben schwer machen, die ihren 15jährigen Sohn verlor, der sich von einem Hochhaus stürzte, weil er ein schlechtes Zeugnis hatte und nicht versetzt wurde. Kann man lernen mit Schuldgefühlen umzugehen oder sie gar zu heilen?

Ich erlebe, dass man sich konstruktiv mit Schuldfragen auseinandersetzen kann. Das ist ja ein zentrales Thema meiner Arbeit geworden, ich habe das Buch „Schuld Macht Sinn“ geschrieben, sogar eine Vortragsperformance mit einer Clownin dazu entwickelt. Du fragst nach „Heilung“ von Schuldgefühlen.  Ich glaube ja, dass Schuldvorwürfe für viele Menschen bereits ein Heilungsversuch, eine Art Pflaster sind auf der tiefen Verletzung, ohnmächtig mitansehen zu müssen, dass jemand stirbt. Und der Vorwurf an sich selbst gibt einem eine eingebildete Handlungsmacht, als Täter/in ist man zwar „böse“ aber eben auch einflussreich und entscheidend für Leben und Tod. Die Wunde, die heilen möchte, ist aus meiner Sicht nicht „die Schuld“ sondern das ohnmächtige Ausgeliefertsein an den Tod eines anderen. Das gilt übrigens für alle Todesarten, nicht nur für Suizid. In meiner eigenen Geschichte habe ich gelernt, meine Ohnmacht angesichts von Beverleys Tod zu ertragen, in dem ich mich darauf konzentriert habe, dass ich an anderen Stellen etwas bewegen kann. So bin ich aus dem gelähmten, sinnentleerten Zustand herausgekommen. Danach konnte ich mich damit beschäftigen, was ich meinte „falsch gemacht zu haben“ und lernen, auch das anzunehmen und auszuhalten, dass ich nicht so perfekt bin, wie ich es gerne wäre. Auch das ist letztendlich ein Annehmen meiner eigenen Ohnmacht.

Kann die Angehörige eines Menschen, der sich das Leben nahm, überhaupt wieder ein stabiles Gleichgewicht im Leben bekommen und wenn ja, wie geht das?

In Deutschland bieten zahlreiche Telefonseelsorgestellen anonyme Beratung 24 Stunden am Tag unter
0800 1110111 oder 0800 1110222
an. Weitere Informationen gibt es hier: Sorgen?

Ja. Das erlebe ich an mir und an den vielleicht tausend oder mehr Suizidtrauernden, denn ich begegnen durfte. Ich benutze ja oft das Bild des Marathons für Trauerwege und den müssen Suizidtrauernde laufen wie alle anderen Trauernden. Und wie allen anderen hilft ihnen dabei, wenn sie unterstützt werden, wenn es Pausen und Ruhezeiten gibt und wenn es Menschen gibt, die ihnen vertrauen und an sie glauben, egal wie oft sie stolpern und wie langsam und mühsam sie voran kommen. Daneben sind kompetente, angstfreie „ExpertInnen“ für manche Abschnitte des Weges hilfreich, dass können Trauerbegleitende sein, PsychotherapeutInnen und spirituelle LehrerInnen. Andere Betroffene sind hilfreich, das sind die Menschen, denen man nichts erklären muss, deshalb suchen viele Suizidhinterbliebene AGUS-Selbsthilfegruppen oder spezialisierte Wochenendseminare.

Der Suizid eines nahe Menschen hinterlässt wahrscheinlich bei den meisten Menschen eine grundsätzliche Verunsicherung. Aber das geht vielen Menschen so – auch mit anderen verunsichernden Erlebnissen als einem Suizid. Es erfordert Achtsamkeit und Geduld und Mut damit weiterzugehen, aber es hindert nicht daran, noch ganz viel Leben zu erleben.

Sag uns zum Abschluss noch etwas zu den gewählten Todesarten. Gibt es Unterschiede in der Entscheidung, wie man aus dem Leben geht, bei Männern und Frauen?  Hast du dazu eine Meinung?

In der Forschung ist bekannt, dass die Wahl der Tötungsart oft mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu tun hat, eine Anästhesist hat Zugang zu Betäubungsmitteln und tötet sich damit, während eine Polizistin eher zu ihrer Dienstwaffe greift.

Gibt es einen Rat an unsere User, den du gerne geben möchtest?

Unbedingt auf die Seite von AGUS gehen: www.agus-selbsthilfe.de.

Hast du eine Buchempfehlung für uns oder eine Musikempfehlung, einen weisen Satz oder einen Film, der dir wichtig ist?

Hilde Domin: Nicht müde werden/sondern dem Wunder/leise/wie einem Vogel/die Hand hinhalten.

Wir danken dir für dieses Gespräch.


Chris Paul:

1962 bin ich als älteste Tochter in eine Familie hineingeboren worden, die soziales und auch politisches Engagement sehr wichtig nahm. Der Suizid meiner ersten Partnerin war schockierend für mich, trotzdem hielt ich an meinen Lebensträumen fest. Ich arbeitete viele Jahre lang an verschiedenen Stellen mit Kultur, die ich selber machte oder organisierte. Seit 1998 arbeite ich als Trauerbegleiterin.

In 2001 begann eine enge Zusammenarbeit mit dem Verein AGUS e.V., der sich bundesweit für Suizidhinterbliebene einsetzt. Dort engagiere ich mich als Beauftragte für Betroffenenseminare und die Fortbildung der Selbsthilfegruppen-LeiterInnen, sowie als Seminarleiterin.

Seit 2002 bin ich im Bundesverband Trauerbegleitung e.V. aktiv (damals hieß er noch „Bundesarbeitsgemeinschaft“), und habe dort in verschiedenen Arbeitsgruppen mitgewirkt und bin aktuell Mitglied der Arbeitsgruppe, die sich mit der voraussichtlichen Diagnose „anhaltende Trauerstörung“ (ICD 11 ab 2018) auseinandersetzt. 2003 begann ich, verstärkt in der Konzeption und Durchführung von Fortbildungen tätig zu sein. Im TrauerInstitut Deutschland organisiere ich einige Fortbildungen selbst, aber ich werde auch von vielen anderen Instituten, z.B. der Mildred-Scheel-Akademie Köln, der Elisabeth-Kübler-Ross-Akademie, Stuttgart, oder dem Kardinal-König-Haus in Wien engagiert.

2017 wurde ich als ständiges Mitglied in die internationale Expertengruppe „International workgroup death dying and bereavement“ gewählt.

Von 1998 bis 2017 habe ich neben zahlreichen Artikeln sieben Fach- und Selbsthilfebücher für Trauernde und TrauerbegleiterInnen veröffentlicht.

Mehr auf meiner Website: www.chrispaul.de


Bücher von Chris Paul

Warum hast du uns das angetan?
Juni 2006, ISBN: 978-3-641-07178-3
Goldman –Verlag

Dieses Buch setzt sich mit dem Thema Suizid auseinander und Wegen, die durch die Trauer führen. Es enthält wertvolle Informationen über Trauerprozesse und die besondere Situation von Hinterbliebenen, die  Menschen durch einen Suizid verloren haben. Das Buch nimmt an die Hand, hilft in der Not.
https://www.randomhouse.de/ebook/Warum-hast-du-uns-das-angetan/Chris-Paul/Guetersloher-Verlagshaus/e403872.rhd

 

Ich lebe mit meiner Trauer
März 2017, ISBN: 978-3-641-19879-4
Gütersloher Verlagshaus
https://www.randomhouse.de/ebook/Ich-lebe-mit-meiner-Trauer/Chris-Paul/Guetersloher-Verlagshaus/e507923.rhd

Die Autorin beschreibt hier Trauerfacetten und löst sich vom Begriff der Traueraufgaben. Trauer ist ganz persönlich, für jeden anders und doch gibt es Gemeinsames. Dieses Buch ist eine praktische Wegbegleitung, zugleich tiefgründig und pragmatisch, wertschätzend und mitfühlend.

Wir leben mit Deiner Trauer – für Angehörige und Freunde
März 2017, ISBN: 978-3-641-19879-4
Gütersloher Verlagshaus
https://www.randomhouse.de/ebook/Wir-leben-mit-deiner-Trauer/Chris-Paul/Guetersloher-Verlagshaus/e507925.rhd

Beide Bücher, das für Trauernde und das für die Angehörigen gehören eigentlich zusammen. Sie machen Mut. Chris Paul merkt an, dass die Trauernden nicht nach Lösungen in der Ferne schauen sollten. Sie sieht die Trauer als die Lösung der Probleme, die wir haben, wenn ein geliebter Mensch aus dem Leben geht.

 

Lisa Freund
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