Der Amselvater und Josephina

Der Autor zeigt, wie verschiedene Erfahrungen großer Trauer nach dem Tod geliebter Menschen in einem einzigen Moment des Erinnerns miteinander verschmelzen können, selbst wenn die Ereignisse lebenszeitlich weit auseinander liegen. Dabei lässt sich auf tröstliche Weise spüren, dass große Zuneigung immer wachgehalten werden kann.

Ein pechschwarzer Amselvater mit leuchtend gelbem Schnabel sitzt auf dem Balkongeländer. Jeden Morgen zur Frühstückszeit. Bleibt einige Minuten gelassen da sitzen und singt, manchmal laut – ein fröhliches Zurufen – manchmal beinah stumm, wie gehaucht.

Als meine liebe Elisabeth im November 2013 mit 66 Jahren an Krebs starb, hörte ich sie in ihren letzten Lebenswochen immer wieder in tief empfundener Dankbarkeit sagen: „Einfach wunderbar, dieser Vogel! Und dieser ernste Gesang … einmalig … kostbar … unvergleichlich … heilig … tröstlich …“
Es ist mir schon bald nach Elisabeths friedlichem Abschied vom Leben zum unverzichtbaren Ritual geworden, die Stimme einer Amsel besonders freundlich zu begrüßen und achtsam ihrem Gesang zu lauschen.

Jetzt, sieben Jahre später, ist nun auch mein alter Freund Jo am 1. November 2020 mit 84 Jahren gestorben, exakt dreißig Jahre, nachdem Sibilla und Joseph Brombach das Elisabeth-Hospiz in Lohmar-Deesem gegründet haben.
Vor langer Zeit schon habe ich Jo insgeheim als den großen Bruder auserkoren, den ich nie hatte, während ich selber für sechs Geschwister der große Bruder bin. In geheimer Absprache mit meinem Gewissen berief ich Jo in das inoffizielle Amt eines brüderlichen Mentors, der auf mich aufpasst und mich achtet und schützt. Wie Jo so war, nahm er diese Aufgabe ohne Widerstand an und mit großer Selbstverständlichkeit treu und verlässlich wahr.

Und nun, neun Monate nach seinem Tod, erscheint da bei Sibilla dieser noch junge Vogel, eine kleine vielleicht ein wenig verletzte Amselfrau, der es sichtlich nicht gut geht. Sie hüpft vorsichtig im Lichthof des Hospizes umher, sucht Futter, hebt flatternd ab und findet Plätze zum Schlafen in den vielen großen Pflanzen des Wintergartens, den Sibilla und Jo angelegt und über alle Jahre hinweg gemeinsam gehegt und gepflegt haben.
Auf einmal singt die kleine Amsel ein Lied.
Sibilla spricht mit dem Vögelchen, das Tierchen spricht zu Sibilla. Sofort fällt ihr der einzige Name ein: Josephina soll die Amsel heißen. Auch ich spüre, das stimmt. Mir, seinem angenommenen kleinen Bruder, sendet Jo ein geheimes Zeichen des Trostes: die Vögel singen weiter.
Ein paar Tage später lockt Josephina einen pechschwarzen Freund mit goldgelbem Schnabel in den Lichthof. Zuerst weiß er nicht so recht, was er mit der seltsamen Situation in diesem andalusisch anmutenden Patio anfangen soll und guckt ganz verdutzt. Er tippelt aber verliebt hinter Josephina her und ist bald von dieser prachtvoll gestalteten Paradiesgarten-Atmosphäre vollkommen überzeugt. Im Duett singen die beiden ganze Arien, schnäbeln miteinander und laben sich am bereitgestellten Sibilla-Menü, erfrischen sich im Badewasser und finden Vergnügen am Sandbaden am kleinen Strand unter Josephs selbst gepflanzter Lieblingspalme.
All das rührt Sibilla in ihrer Trauer um Jo zu Tränen. Und doch ist sie auch glücklich. Josephina ermutigt uns und alle, die sich zum Freundeskreis zählen dürfen, zu froher Erinnerung an Josephs unvergleichlichen Humor und sein ansteckendes Lachen.
Vor kurzem nun zog eine wilde Sehnsucht unser Amselpärchen hinaus in die große Freiheit der weiten Welt draußen.
Und ich horche weiter voller Vorfreude auf neue Botschaften im Amselgesang.

Jürgen Caloja
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