Ein Film-Dokument: „Lisbeths letzte Reise“
Gespräch mit Filmemacher Thomas Carlé, der Leben und Sterben seiner Eltern filmisch bewahrte
Thomas Carlé, Jahrgang 1952, hat ein durchaus bewegtes Leben, das er seit vielen Jahren dem Filmemachen gewidmet hat. Nach einem Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin Anfang der 80er Jahre arbeitet er als freier Filmemacher, Kameramann, Drehbuchautor und Cutter. Für „Männer auf Rädern“, einen „fiktiven Spielfilm“, über die Fahrrad-Sucht, in die mancher Mann verfällt, errang er den Adolf Grimme Preis. Bekannt wurde er auch als Co-Regisseur für die Dokumentation „Full Metal Village“ über das Dorf Wacken in Niedersachsen, in dem sich alljährlich zehntausende von Heavy-Metal-Fans zum größten Festival weltweit treffen.
Auch als Professor für Videoproduktion an der Hochschule Darmstadt ist Thomas Carlé immer noch selbständig aktiv. Sein jüngster Film „Lisbeths letzte Reise“ wurde im April 2016 uraufgeführt. Carlé hat damit über einen Zeitraum von 14 Jahren mit der Kamera das Leben, das Sterben und den Tod seiner Eltern dokumentiert
Lieber Thomas Carlé,
Sie haben über viele Jahre Ihre Eltern mit der Filmkamera begleitet. Ihr Film „Lisbeths letzte Reise“ zeigt, wie die Demenz immer mehr Raum ergreift im Leben Ihres Vaters – bis zu seinem Tod. Und auch Ihre Mutter, die dem Film den Namen gegeben hat, haben sie sehr nah begleitet. Wann hatten Sie erstmals den Gedanken, einen Film daraus zu machen?
Das war ein sehr langer Prozess. Meine Frau und ich zogen vor 14 Jahren raus auf´s Land in die direkte Nachbarschaft meiner Eltern, die damals langsam wirklich Hilfe brauchten. Ich drehte anfangs nebenher – ohne klare Vorstellung, was ich einmal mit dem Material machen würde. Ich hatte einen Spruch von Francois Truffaut im Hinterkopf, daß Filmemacher bedeute, dem Tod bei der Arbeit zuzusehen. Bei meinen Studenten, die ich unterrichte, herrscht über Sterben die Vorstellung vor, daß das etwas mit coolen Serienkillern oder Folterszenen im Keller zu tun habe. Dabei sterben immer die anderen. Es ist wie den anderen das Licht auszuknipsen. Wenn ich dann heim kam, erlebte ich eine andere, realistischere Version von Sterben.
Haben Ihre Eltern Sie gefragt, was Sie mit den Aufnahmen vorhaben?
Bei meinem Vater, der immer mehr in der Demenz versank, war das leider nicht mehr möglich. Aber er kannte das eh von mir, daß ich immer mit einer Kamera rumfuchtele. Er nahm das dann als eine Art Rollenspiel am Set. Meine Mutter wusste hingegen ganz genau, was ich da machte, und sie fand es gut. Sie hatte ihr Leben lang alles im Griff, kontrollierte und managte die Familie. Daß sie niemand darauf vorbereitet hatte, was dann wirklich auf sie zukam, empfand sie als demütigend. Eine selbstbestimmte Entscheidung war ihr so verwehrt. Daher fand sie das Filmprojekt auch gut. „Die“ sollen mal sehen, was das (Sterben) konkret bedeutet! Hätte es ihrerseits auch nur die kleinsten Bedenken gegeben, hätte ich den Film nicht gemacht.
Von manchen Dokumentarfilmern habe ich gelesen, dass sie – gerade bei privaten Aufnahmen – die Kamera als Schutz erlebt haben, um sich in besonders ergreifenden Momenten ein wenig distanzieren zu können. Haben Sie das auch so erlebt?
Dazu war ich zu sehr involviert. Auf eine Stunde Dreh kamen zig Stunden ohne die Kamera, weil irgendwas zu erledigen oder zu besorgen war. Außerdem war die Kamera eher Beiwerk. Unsere normale Kommunikation und Interaktion lief ja immer weiter.
Sie haben als Dokumentar-Filmer jahrzehntelange Erfahrung damit, sehr nah an Menschen heranzugehen, nicht nur ihre Aussagen, sondern ihre Persönlichkeit zu erfassen. Wo liegt für Sie der Unterschied einen Fremden zu filmen oder ihre Eltern, besonders ihren Vater?
Es ist halt viel vertrauter. Meinem Vater warfen wir vor, seine Zeit als Wehrmachtssoldat in Südfrankreich zu verharmlosen – das sagten schließlich alle seiner Generation. Aber nach seinem Tod stellte sich heraus, dass er noch untertrieben hatte. Er hatte als Soldat in Toulouse drei Juden und einem geflohenen spanischen Anarchisten das Leben gerettet. Das kam aus einer absolut vertrauenserweckenden Quelle. Wir haben das dann noch mal recherchiert. Es stimmte und wurde belegt. Dafür, dass wir ihm das nicht geglaubt haben, schämte ich mich. Wir hatten die Generation doch zu sehr über einen Kamm geschoren. Ich bedaure sehr, daß ich das nicht noch mit ihm klar kriegen konnte, daß wir ihm Unrecht getan haben.
Sie haben sich Zeit gelassen, die vielen Aufnahmen zu einem Film zusammenzustellen. Vermutlich schon früh stellt sich die Frage, welche Szenen öffentlich werden dürfen und welche nicht. Auf welche Grenzen sind Sie gestoßen?
Die Gratwanderung bestand darin, daß ich einerseits den Anspruch hatte, ein realistischeres Bild zu zeigen, andererseits aber nicht die Würde meiner Eltern verletzen wollte. Also schnitt ich die ganz „harten Sachen“ raus und drehte möglichst so, daß heikle Situationen abgedeckt oder im off stattfanden. Darüber, ob mir das gelungen ist, gehen die Meinungen bestimmt auseinander. Das Thema ist ja totales Tabu.
Wenn Ihr Sohn/Ihre Tochter dereinst auf die Idee kämen, Ihre letzte Reise zu dokumentieren – was würden Sie sich von ihm/ihr wünschen?
Warmherzigkeit, Anteilnahme, Präzision und kein Schielen auf Effekte oder Attraktionen auf meine Kosten (siehe oben).
Sie haben Ihr Fachwissen in einem Studium und vielen Filmprojekten erworben und vertieft. Heute arbeiten Sie als Professor für Videoproduktion an der Hochschule Darmstadt. Sicherlich haben auch Studierende schon Ihren Film gesehen, die also nicht nur deutlich jünger sind als Sie, sondern auch über Fachwissen verfügen. Was waren die häufigsten Fragen, die Ihnen nach einer Vorführung gestellt wurden?
Da es ja Filmstudenten sind, ging das viel in die Richtung, wie ich bestimmte Sachen gemacht habe, wie man sich mit einer Kamera in derartigen Situationen bewegt, ob man allen reinen Wein einschenkt usw. Interessanterweise sind ein paar Projekte filmischer Abschlussarbeiten dadurch initiiert und ermutigt worden. Eine Studentin ist z.B. jetzt damit konfrontiert, daß ihr 50jähriger Vater nach einem Hirnschlag im Wachkoma liegt. Die Studentin arbeitet jetzt daran, einen filmischen „Dialog“ zwischen Tochter und Vater zu realisieren. Was daraus wird, ist zweitrangig. Es hilft ihr aber ganz sicher, mit der Situation besser klar zu kommen und würdig Abschied zu nehmen.
In früheren Jahren waren private Fotos bisweilen gnädig – sie zeigten die längst verblichenen Menschen in schwarz-weiß, häufig auch ein wenig unscharf. So blieb viel der persönlichen Erinnerung überlassen, vielleicht auch mit der Möglichkeit, sie ein wenig zu schönen. Sie hingegen können Ihre Eltern nun stets im Detail sehen, in ihren typischen Bewegungen, Gesten, der Stimmlagen, ihrer Mimik und wieder erleben. Ist das nicht besonders schmerzhaft, gerade in der Trauer? Oder hilft es Ihnen, den Verlust ihrer Eltern besser zu begreifen?
Während des Schnitts hat mich das schon manchmal sehr mitgenommen, aber andererseits sind da ja auch viele schöne Situationen dabei. Ich bin sehr froh, daß ich die dokumentiert habe.
Sie erlauben Fremden den Einblick in sehr private Bereiche Ihres Familienlebens. Sie würden dies sicherlich nicht tun, wenn Sie nicht eine Absicht damit verbinden würden. Können Sie eine nennen?
An der Filmakademie überzeugte mich eine Definition von der Aufgabe künstlerischer Arbeit am ehesten: das gesellschaftliche, kulturelle „Frühwarnsystem“ zu sein. Dabei begebe ich mich natürlich in Bereiche, wo es weh tut, und wo die meisten anderen sagen: ich weiß gar nicht, was er hat, es ist doch alles in bester Ordnung.
Nach den konkreten Erfahrungen der letzten zehn bis zwölf Jahre finde ich das aber nicht. Wie wir in unserer Kultur Alter und Tod verdrängen, verkitschen, tabuisieren und auslagern hat ein Ausmaß erreicht, das meines Erachtens nicht gesund sein kann. Es erinnert fast an Science Fiction, wo man Alte zur Entsorgung an einer Klappe abgibt.
Wenn Ihnen BetrachterInnen Ihres Filmes nachträglich ihre Empfindungen erzählen – über welche freuen Sie sich besonders?
Daß ihnen der Film etwas gegeben hat. Die Reaktionen bei den wenigen (Test-)Vorführungen waren überraschend positiv, sehr intensiv und ermutigend. Es schälen sich allmählich drei Gruppen heraus, die verstehen, worum es in dem Film geht. Erstens die „Profis“: Ärzte, Pfleger dann zum Beispiel ehrenamtliche Hospizbegleiter, dann Betroffene und Senioren, die dankbar sind, daß sich jemand des Themas annimmt.
Andere Filmemacher hätten frühzeitig eine DVD anfertigen lassen, um sie zum Kauf anzubieten. „Lisbeths letzte Reise“ hingegen wurde vor über einem halben Jahr erstmalig öffentlich aufgeführt. Aber eine DVD gibt es derzeit noch nicht. Fast scheint es so, als würden sie zögern – woran liegt das?
Ich war (und bin !) unsicher, was ich mit dem Film sinnvollerweise wie machen soll. Ich denke, daß er gut zum Beispiel für die Ausbildung in der Pflege, der Palliativmedizin und der Sterbehilfe eingesetzt werden kann, begleitet und eingebettet.
Welches Buch, Bild oder Musikstück ist Ihnen wichtig und welches würden Sie unseren LeserInnen empfehlen?
Zum Thema ? Als Buch “Deutsche Sitten“ von Gabriele Göttle. Daraus speziell „Blick in ein x-beliebiges Sterbebett“ oder „Fahrt auf dem Abstellgleis – Protokoll einer Nacht“.
Bei Bildern dachte ich öfter an die Vanitas-Motive, zum Beispiel aus dem Barock. Das junge Mädchen mit Kamm und Spiegel, dahinter der Tod mit dem Stundenglas. Daran dachte ich manchmal, weil meiner Mutter Passion die Friseurbesuche waren – bis zum Schluß.
Lieber Herr Carlé, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Die Website von Thomas Carlé:
www.thomascarle.de/
Bericht über die Film-Premiere in der op-online:
http://www.op-online.de/region/frankfurt/bewegende-nahaufnahme-6265802.html
Deutsche Sitten
Gabriele Goettle
1991, Eichborn-Verlag
ISBN: 9783821840789
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Dank eurer Seite bin ich auf diesen tollen Film und Regisseur aufmerksam geworden.
Herr Carle´ wird Ihn für uns nochmal im Kino laufen lassen.
Macht weiter so!!!