„Ich bin in eine extreme emotionale Schräglage gekommen“

Interview mit Peter (64 Jahre) über seinen Suizidversuch

Peter hat zwei Suizidversuche überlebt, die er nicht genauer beschreiben möchte. Er litt an einer schweren Depression, als er sich das Leben nehmen wollte. Voraus ging eine Lebenskrise, die es in sich hatte – Trennung von seiner Frau, Krankheit, Umzug in eine kleine Wohnung und ein neues Leben als Single. Mit uns teilt er einige seiner Erfahrungen. Peter ist heute Rentner. Er hat keine Kinder.

Es ist heute in Studien belegt, dass schätzungsweise 65-90% aller Suizide durch schwere  psychische Erkrankungen verursacht werden. In Deutschland nahmen sich 2013 dreimal mehr Männer als Frauen das Leben. Es gab insgesamt 10.076 Suizide. Besonders bei Männern steigt die Suizidrate ab dem sechzigsten Lebensjahr.

Peter, du hattest im letzten Jahr im Zuge einer schweren Lebenskrise zwei Suizidversuche unternommen. Du wirkst heute ausgeglichen und humorvoll. Für mich ist es kaum zu glauben, dass du dir vor einiger Zeit das Leben nehmen wolltest. Wie kam es dazu?

Ich hatte schon immer ein bisschen den Hang zu einer negativen Weltsicht. Es ist mir in meinem Leben in der Vergangenheit nie leicht gefallen, mit Menschen zu sein. Als ich zum ersten Mal alleine gewohnt hab, wollte ich oft ganz normal mit Freunden zusammen sein und das hab ich nicht hin bekommen, bin in die Kneipe gegangen und hab nicht sprechen können. Ich wusste nie über was, hatte immer ein oder zwei Freunde, na ja, das war nicht leicht. Ich hatte schon immer extreme Krisen, als ich alleine gewohnt habe. Da hab ich auch schon einen Suizidversuch unternommen, so Ende zwanzig.

Ich weiß nicht mehr, was so dramatisch war, dass mir an einem Abend vor fünf Jahren die Gedanken völlig weggaloppiert sind, so dass ich meinen Therapeuten um Hilfe bat, der meinte, ich sollte sie mir in einer psychiatrischen Einrichtung holen. Dort wurde ich sofort medikamentös eingestellt. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass die Wirkung eines Antidepressivums, das ich regelmäßig eingenommen habe, sich nach fünf Wochen ins Gegenteil verkehrte. Dass das möglich ist, ist bekannt. Ich habe es erst nach meinem Suizidversuch erfahren. Ich kam in eine extrem depressive Stimmungslage, die ich bis dahin noch nicht von mir kannte, jedenfalls nicht in diesem Ausmaß.

Ich weiß, es ist schwer für dich: Kannst du die Stimmungslage, ein wenig genauer beschreiben?

Ich hatte extreme Schuldgefühle wegen Dingen, die ich in der Vergangenheit getan, beziehungsweise nicht getan habe. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, war ich so in diesem Zustand verfangen, dass ich unfähig war, in irgendeiner Weise zu handeln. Das ging so weit, dass ich teilweise nicht mal aus dem Bett aufstehen konnte. Es erschien mir alles hochgradig sinnlos, wie die Menschen herumgelaufen sind, wie sie zur Arbeit gehen, die ganze Existenz erschien mir sinnlos, inklusive der Welt. Ich wollte mir das Leben nehmen, um den extrem negativen Gedanken im Kopf ein Ende zu setzen, obwohl mir klar ist, dass der Tod nicht das Ende ist. Das hat den Leidensdruck auch noch erhöht. Das ist ein Zustand, in dem man denkt, man kommt nie wieder heraus.

Magst du ein bisschen genauer sagen, was in deinem Kopf, im Denken und Fühlen los war? Bist du von Gedanken und Bildern überwältig worden?

Ja auch. Ich hatte zum Beispiel Bilder wie ich selber gefoltert werde auf extreme Art und Weise und diese Methoden auch auf andere übertragen wurden. Das konnte ich sehen. Ich steckte dann in dieser Qual drin, dass ich die Gedanken nicht haben wollte. Umso mehr ich sie abgelehnt habe, um so stärker wurden diese Gedanken. Ich nenne das heute eine emotionale Schräglage, die durch das Medikament ausgelöst wurde. Der Höhepunkt war: Es fühlte sich an wie eine Lähmung. Ich kam nicht mehr aus dem Bett, gerade noch zur Toilette. Aus eigener Kraft ging nichts mehr. Ich habe fast zwei Tage nichts gegessen, hatte auch keinen Hunger, konnte fast nicht mehr einkaufen gehen.

Ich hab mir vorher schon überlegt, wie ich meinem Leiden ein Ende setzten könnte, in der irrigen Annahme, dass das Leiden mit dem Tod aufhört.

In Deutschland bieten zahlreiche Telefonseelsorgestellen anonyme Beratung 24 Stunden am Tag unter
0800 1110111 oder 0800 1110222
an. Weitere Informationen gibt es hier: Sorgen?

Teilen deine Ärzte auch deine Meinung über die Auswirkungen der Medikamente?

Der Hausarzt ist dafür nicht zuständig. Nur eine Psychiaterin kann dazu etwas sagen und die Medikamente verschreiben. Ich sollte nach dem Suizidversuch ein zusätzliches Medikament nehmen (zur Antriebssteigerung), was ich nicht wollte. In einem Interview mit einem Leiter einer psychiatrischen Einrichtung sagte dieser, dass nach der Einnahme eines Antidepressivums vermehrt Suizidversuche aufgetreten sind. So war es dann wahrscheinlich auch bei mir.

Welche Unterstützung wünschst du dir, wenn die negativen Gedanken dich überwältigen?

Ich wünschte mir heute, dass Ärzte in einer psychiatrischen Einrichtung nicht gleich Antidepressiva oder ähnliches verabreichen, sondern zusammen mit dem Patienten nach Alternativen suchen. Es ist bekannt, dass das Medikament, das ich bekam, nicht immer stimmungsaufhellend wirkt, sondern auch einen gegenteiligen Effekt haben kann. Darüber hätte man mich informieren können. Der emotionale Absturz trat erst ein, als ich nicht mehr in der Einrichtung war. Dadurch bin ich in diese extreme emotionale Schräglage gekommen. Und hinterher wird man als psychisch krank bezeichnet. Welch absurdes Szenarium.

Glaubst du, dass das Leiden nach dem Tod aufhört?

Es könnte ja noch schlimmer werden.

Trotzdem hast du Hand an dich gelegt?

Es war eine Hoffnung da, dass doch alles aufhört.

Du hast so viel Schweres hinter dir. Schlimmer kann es nicht mehr kommen oder? Hast du jetzt wieder Freude am Leben?

Noch nicht, ich arbeite dran, indem ich in eine ambulante Behandlung gehe zum Beispiel.

Hast du einen Rat für Menschen, denen es ähnlich geht?

Es liegt im Wesen der Dinge, dass sie sich ändern. Das gilt auch für Stimmungen und Geisteszustände. Es ändert sich eben alles und immer, auch wenn es nicht so offensichtlich ist.

Wir danken dir für dieses Gespräch.


Hinweis der Redaktion

Wir bitten um Verständnis dafür, dass Peter weder ein Foto von sich noch biografische Informationen an die Öffentlichkeit und damit auch an uns geben möchte. Er bevorzugt es, anonym zu bleiben.

 

Lisa Freund
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