„Die Kinder tragen den Drang zum Leben in sich …“

Interview mit Frau Hummler-Antoni darüber, wie Kinder trauern

Frau Hummler-Antoni ist eine erfahrene Trauerbegleiterin und Kunsttherapeutin. Sie arbeitet im Stuttgarter Hospiz St. Martin. Dort ist sie die verantwortliche Koordinatorin für Kinder- und Jugendtrauer. Die bunten Bilder in unserer Galerie haben Kinder und Jugendliche unter ihrer Anleitung gemalt. Frau Hummler-Antoni berichtet uns, wie sie zu ihrem Beruf, der auch Berufung ist, gefunden hat. Sie teilt mit uns wertvolle Erfahrungen über berührende Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen, die trauern. 

Sie arbeiten als Kunsttherapeutin im Hospiz bis heute? Mögen Sie etwas zu sich und ihrer Person sagen? Wer sind Sie?

Ich bin, wenn ich in frühe Kindheitstage zurückdenke, immer schon kreativ „unterwegs“ gewesen. Was das Schöpferisch-tätig-Sein bedeuten kann, musste oder durfte ich früh erfahren. Es war in gewisser Weise „rettend“ für mich, als ich mit drei Jahren einen schweren Autounfall hatte, der mich über mehrere Jahre immer wieder in Krankenhäuser führte. Meine Eltern brachten mir Farben und Papier und ich malte. So verbrachte ich die langen Tage weitgehend im Bett mit meinen Bildern, die mich umgaben und mich glücklich machten. Mein Traumwunschberuf war dann der, Erzieherin zu werden in einer Kita. Diesen Beruf habe ich auch zunächst gelernt und ihn sieben Jahre lang als Jugend- und Heimerzieherin ausgeübt. Durch viele Malkurse und -Exkursionen und Studientage bei verschiedenen KünstlerInnen sowie meine eigene Ateliergründung und Ausstellungstätigkeit reifte dann der Entschluss in mir, freie Kunst und Kunsttherapie zu studieren. Es war eine der besten Entscheidungen in meinem Leben.

Was hat Sie bewogen Kinder anzuregen, Bilder über das, was nach dem Tod kommt, zu zeichnen?

Vielleicht Neugier oder und die Freude am Entdecken. Und ich glaube fest daran, dass Kinder ihrem Ursprung einfach noch viel näher sind als wir Erwachsene und demzufolge angstfreier und sorgloser über das Danach oder Davor „berichten“ können. In so vielen Begegnungen mit Kindern durfte ich erfahren, dass das numinose Geschehen dessen, was uns nach dem Leben „erwartet“, von Kindern recht klar gefasst werden kann – und zwar im Bild besser als im Wort, wobei das Bild dann hilft, Worte zu finden. Kinder führen uns zu Erkenntnissen, die wir als Erwachsene wegen unserer überwiegend stark kognitiven Prägungen nicht so einfach erlangen.

Bitte erzählen Sie uns, in welchem Zusammenhang die Kinderbilder, die wir in Elysium.digital veröffentlichen dürfen, über das, was nach dem Tod kommen könnte, entstanden sind?

Als das Hospiz gebaut wurde kam die Leiterin Dr. Angelika Daiker mit dem Anliegen auf mich zu, die Hospizidee hier im Stadtteil zu verbreiten. Das Hospiz steht mitten in einem Wohngebiet, in unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich ein Kindergarten. Was liegt da näher, als in pädagogische Einrichtungen zu gehen, denn der Multiplikator-Effekt ist dort am ehesten gewährleistet. Zudem beschäftigen sich junge Familien in der Regel nicht mit dem Sterben. Also bin ich auf Kindergärten und Schulen zugegangen und habe dort kooperierende LehrerInnen gefunden, vorwiegend aus dem Religions-, Deutsch- und Kunstunterricht. Wieviel Erfolg wir mit diesem Kunstprojekt hatten, zeigten dann im Eröffnungsjahr die vielen Führungen durchs Haus, begleitet von der Ausstellung aller Exponate in allen öffentlich zugänglichen Räumen.

Können Sie uns an einem Beispiel beschreiben, wie Sie mit Kindern arbeiten, die gerade eine wichtige Bezugsperson wie Vater oder Mutter verloren haben? Wie stellen Sie den Kontakt her? Wie geht der Prozess zwischen Ihnen und dem Kind?

Wenn die/der nahe stehende Verstorbene hier auf Station ihre/seine letzte Lebenszeit verbracht hat, dann entsteht der Kontakt mit den Kindern meistens schon in der Zeit der Besuche hier, da ich als Kunsttherapeutin auch auf Station mit den Gästen arbeite und die Kinder in manche Angebote bereits mit einbeziehe. Die meisten Anfragen zur Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen kommen aber aufgrund eines Verlustes, ohne dass zuvor Kontakt zum Hospiz bestanden hat. Hierzu zählen vor allem auch Anfragen bei plötzlichem Verlust beispielsweise durch Herzinfarkt, Unfalltod, Suizid oder gewaltsamen Tod.

Der Kontakt wird in der Regel durch die Eltern oder andere Zughörige hergestellt. Gelingende Trauerbegleitung ist ohne Eltern fast nicht möglich, denn meistens benötigt das gesamte System Unterstützung. Und mir ist es wichtig, dass die Kinder wollen und nicht müssen. Vor allem plötzlicher schulischer Leistungsabfall oder entsprechend auffallendes Verhalten ist oft der Grund, warum sich Eltern an uns wenden. Es ist immer sehr wichtig, die Eltern darüber zu informieren, was jetzt im Augenblick in den Kindern vorgeht, und für Verständnis zu werben. Meistens ist dieses erste Kontaktgespräch auch sehr hilfreich und zur eigenen Trauer hin öffnend, denn die Eltern gewährleisten unter enormem Bedingungen oft das Weiterleben des Systems und drücken die eigene Trauer weg.

Wenn sich ein Kind dann auf eine Begleitung einlässt, gehe ich in der Regel sehr spielerisch vor, im Wissen um die derzeitigen Lebensumstände des Kindes, die eben nicht mehr von Leichtigkeit und Sicherheit geprägt sind. Wenn es gelingt, dieser tiefen Verunsicherung des Verlassenwordenseins das Gesehen- und Gehaltensein entgegenzusetzen, ist schon ganz viel Heilsames geschehen.

Ich setze oft Bilderbücher im Erstkontakt ein oder lasse mit ganz bunten Knöpfen die Familie legen, auch die Menschen und Tiere, die verstorben sind. Dann dürfen diese Knöpfe zu einer Kette aufgefädelt und mit nachhause genommen werden. Ich erzähle übrigens auch von meinen Verlusten im Leben. Das schafft eine Atmosphäre auf Augenhöhe und Vertrauen, was die Grundlage des weiteren Arbeitens schafft.

Worin und wie finden Kinder Ihrer Meinung nach Trost?

Da gibt es viele Aspekte, einige wichtige möchte ich nennen:

  • Authentisches Dasein des Gegenübers. Wenn ein Kind oder Jugendlicher jemand nahe stehenden verloren hat, dann ist das sehr verunsichernd. Die bislang geglaubte Stabilität im Leben ist wie ein Kartenhaus zusammengestürzt. Jetzt braucht das Kind oder der Jugendliche verlässliche ParternInnen, die den Untiefen der Trauer nicht ausweichen.
  • Größtmöglichste Normalität und Rituale im Alltag. Wenn das Zubettgehritual plötzlich wegfällt, weil Mama nicht mehr da ist oder die wöchentliche Reitstunde nicht mehr stattfinden kann, dann kommt zu dem ohnehin schwer verkraftbaren Verlust noch der Abschied von Liebgewonnenem dazu, das bisher Ausgleich, Hobby, Kontaktmöglichkeit zu anderen war.
  • Zusammensein mit anderen, die Ähnliches oder Gleiches erlebt haben. Diese beglückende Erfahrung machen wir in allen unseren Kinder- und Jugendtrauergruppen.
  • Zu einem kreativen Ausdruck ermutigen. Oft muss ich in meiner Arbeit mit Trauernden feststellen, dass es keinen Zugang  mehr gibt zum Staunen und Entdecken. Warum auch? Ich kann das Neue ja nicht mehr teilen mit der Person, die so wichtig war. In scheinbar „sinnloser“ Zeit die Sinne zu aktivieren, hilft, wieder ganz unerwartete Entdeckungen zu machen und kleine Freuden willkommen zu heißen. Dieses Neuentdecken ist irreversibel.

Gehen Kinder anders mit dem Tod um als Erwachsene?

Ja, denn sie sind immer noch unbekümmerter als wir Erwachsene und vor allem selbst in der Trauer noch begeisterungsfähig. Ein Mädchen, dessen Mama bei uns auf Station starb, wurde wenige Stunden vor deren Tod kurzerhand eingeladen, beim Familienbegegnungstag mit dabei zu sein, während der Vater seine Frau auf Station begleitete. Die Gruppe der jung verwitweten Eltern hatte das Mädchen und den kleineren Bruder für diese Stunden in ihren Kreis aufgenommen. Sie saß mit am Kaffeetisch und sagte mit Freude in den Augen zu den anderen, dass sie nun auch bald zu ihnen gehören werde und fragte, wann denn das nächste Treffen sei.

Die Kinder tragen den Drang zu leben in sich und können diesem auch eher nachgeben.

Ich stelle mir vor, Sie erleben ein Kind in einer der schwersten Situationen, die es im Leben hat. Sie versuchen ihm zu helfen, Ausdrucksformen für den eigenen Schmerz und ein wenig Trost zu finden. Sie gehen danach nach Hause. Was bewegt Sie innerlich? Können Sie die Eindrücke loslassen und wenn ja, wie tun Sie das?

In der Regel kann ich das gut hier lassen, weil ich daran glaube, dass die „Lösung“ des Problems bereits da ist, aber eben noch gefunden werden muss und ich mich mit dem Kind auf die spannende Suche danach begebe. Ich habe ein kleines Ritual entwickelt, indem ich einige wenige Sätze zu der stattgefunden Begleitung formuliere und dann das Aufgeschriebene ablege mit einem Impulsgedanken, was beim nächsten Termin dran sein könnte. Bei schwereren Begleitungen hilft mir der kollegiale Austausch, auch Gespräche im privaten Umfeld, meine kunsttherapeutische Berufsgruppe oder auch eine Supervision. Regenerierung finde ich in der Gartenarbeit, in der Natur, im eigenen künstlerischen Schaffen und im Singen, überhaupt in der Musik. Was mir sehr gut tut, ist aber auch der Rückzug, das Suchen von Stille, das Schweigen.

Wie sehen Sie den Tod? Glauben Sie, dass der Tod das Ende von allem ist?

Nein, sicherlich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das, was wir jährlich und verlässlich in den metaphorischen wundervollen Wandlungsprozessen in der Natur erleben dürfen, nichts mit unserem menschlichen Dasein zu tun hat. Und ich glaube, dass eine Art „Bewusstsein“ von uns, vielleicht ist das auch die oft beschriebene „Seele“, immer schon da war und auch bleiben wird.

Und wenn ich mir einige wenige Bilder der Gäste auf Station vergegenwärtige, die gemalt worden sind, nachdem sie bereits die Schwelle berührt hatten, aber nochmals zu Kräften gekommen sind, dann lehrt mich das, an eine Lichtkraft zu glauben, die unvorstellbar ist.

Wollen Sie unseren Lesern ein Buch empfehlen oder einen kürzeren Text, ein Lied, etwas, was zum Thema passt?

Ein Buch, das ich erst vor Kurzem entdeckt habe, gehört derzeit zu meinen Favorites: „Wie lange dauert Traurigsein“ – für alle, die jemanden verloren haben, von Maria Farm, erschienen bei Oetinger. Wunderbar einfach und kindgerecht geschrieben, sehr schöne, ungewöhnliche Bildsprache, und es ist nicht nur für Kinder und Jugendliche geeignet!

Wir danken Ihnen für das Gespräch.


Barbara Hummler-Antoni, geb. 1962, verheiratet, lebt und arbeitet in der Nähe von Stuttgart
Dipl.-Kunsttherapeutin / FH
Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen (ITA)
Psychodrama, systemisch-analytische Kunsttherapie bei Dr. Gisela Schmeer (München)
Derzeit: Ausbildung in Traumapädagogik und -beratung

  • Hospizreferentin
    langjährige Erfahrungen in der Sterbe- und Trauerbegleitung von Erwachsenen
    Begleitung und Beratung von trauernden Kindern, Jugendlichen, Familien, Zugehörigen
    Seminare zum Thema „Kindertrauer“, „Familientrauer“, kreativer Ausdruck von Unaussprechlichem, Sensibilisierung für nonverbale Botschaften
    Fortbildungen, Seminare in der Erwachsenenbildung, Teamentwicklung, Elternabende
    Kreativcoaching
    Als Malerin und Künstlerin tätig seit 1995

Hauptberufliche Tätigkeiten
Dipl.-Kunsttherapeutin im Hospiz St. Martin (seit Januar 2010) Schwerpunkt Trauerbegleitung von Kinder, Jugendlichen, Erwachsenen
Leitung eines Beschäftigungsprojektes für langzeitarbeitslose Frauen in Stuttgart (2006-2009)
Leitung und Aufbau einer Kreativ-Werkstatt in einem Tagestreff für Frauen in Stuttgart (1996-2005)
Kunsttherapeutin in einem autonomen Frauenhaus in Calw (1995-1996)


Stuttgarter Hospiz St. Martin:

https://www.youtube.com/watch?v=7Gu5V6eMGsg.

 

Lisa Freund
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Eine Antwort

  1. 1. März 2017

    […] Die Kinder tragen den Drang zum Leben in sich […]

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