Abschied leben lernen

Sowohl im Leben als auch als Sterbende müssen wir Abschied leben lernen

Der Tod lächelt uns alle an.
Das Einzige, was man machen kann.
ist zurücklächeln.
Marc Aurel

Menschen sterben zu Hause, in Krankenhäuser, in Alten- und Pflegeeinrichtungen, in Gefängnissen, auf Straßen, in der Fremde, während ihrer Flucht und in Kriegen. Sterben hat viele unterschiedliche Gesichter und ereignet sich an ganz verschiedenen Orten und zu jeder Zeit.

Sowohl im Leben als auch als Sterbende müssen wir Abschied leben lernen. Das Miterleben des Sterbens naher Angehöriger erlebte ich als tiefgreifende und zutiefst menschliche Erfahrung in meinem Leben. Sie hat mein eigenes Leben nachhaltig beeinflusst. Im Leben erleben wir Abschiede wie die von Eltern, von Geschwistern, Freunden und Kollegen. Wir erfahren aus Medien von menschlichen Abschieden, die uns berühren und bewegen und uns zum Innehalten und Nachsinnen über das end-liche Leben einladen.

Seit Menschengedenken denken wir über die Frage nach dem guten Leben und dem guten Sterben nach. Sowohl für das Leben als auch für das Sterben gibt es keine Patentlösung. Jeder von uns lebt seine eigene Lebensgeschichte. Nach Birgit und Andreas Heller ist allen Traditionen der Sterbebegleitung gemeinsam, dass gutes Sterben wesentlich von Raum gebenden, sorgenden Menschen abhängig ist[1]Birgit Heller, Andreas Heller: Das Jahresheft Spiritualität und Spiritual Care. Vincentz Network GmbH &Co.KG. 2009 .

Was ist mir wirklich wichtig? Was gibt meinem eigenen Leben und Sterben einen letzten Sinn? Und was hält und trägt mich angesichts meiner Ängste, meiner Zweifel, meiner Verzweiflung und Einsamkeit? Auf diese und viele andere Fragen gibt es keine schnellen Antworten. Es liegt in unserer eigenen Verantwortung, sich mit diesen existentiellen Fragen auseinanderzusetzen und eigene Antworten zu finden. In der Begleitung Lebender, die bald sterben werden, bedarf es – sofern von den Abschied nehmenden Menschen erwünscht – diesen Fragen angemessenen Raum zu geben.

Leben will ich, nicht sterben

Christoph Schlingensief, geb. 1969, Regisseur, Filmemacher und Aktionskünstler schreibt sein bewegendes Tagebuch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“, als er 2008 an Lungenkrebs erkrankt. Christoph Schlingensief lässt uns an seinen offenen Fragen teilhaben, die ihn zutiefst bewegen, als er von einem Moment auf den anderen durch eine schwere Erkrankung aus seiner Lebensbahn geworfen wird. Seine Selbstbefragung in der ihm verbleibenden Lebenszeit zeugt von der eindringlichen Suche nach sich selbst und nach Gott sowie der Liebe zum Leben.

„Ich will noch ein bisschen leben. Ist mein Leben so verpfuscht? Muss das denn sein?“[2]Christoph Schlingensief. So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!  Tagebuch einer Krebserkrankung. Köln. Kiepenheuer & Witsch, 2009: 46f. Für ihn hätte es in seinem Leben noch ausreichend Dinge gegeben, die nun hätten anstehen können. Der Bau eines Theaters in Afrika war für ihn eine lebendige Vision, auf die er noch hätte hinarbeiten können. Und nun sollte der Tod plötzlich und schon so nahe an ihn herangerückt sein? Fragen nach dem Warum, das alles kaputt gemacht wird, tauchen schmerzlich in ihm auf, ergreifen ihn tief. Offen und bewegend beschreibt Christoph Schlingensief in seinem Tagebuch seine Traurigkeit und Ängste wie die unglaubliche Angst vor dem Aushalten – müssen der Einsamkeit und vor dem Nichts. Christoph Schlingensiefs Tagebuch-Aufzeichnungen über seine Krebserkrankung nehmen uns mit in eine bewegende Selbstbefragung und Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen des Lebens.

Geburt und Tod gehören zusammen

Isabel Allende, geb. 1952, arbeitete als Journalistin und Schriftstellerin in Chile, den USA und Spanien. Paula ist die Geschichte ihrer gleichnamigen Tochter und ein sehr persönlicher sowie bewegender Lebensroman. Paula, erst 28 Jahre alt, erkrankt an einer heimtückischen Krankheit. Sie fällt ins Koma, aus dem sie nicht mehr erwacht. Schon bald darauf stirbt Paula.

„Am Sonntag, den 06. Dezember, in einer Nacht ohnegleichen, in der die Vorhänge aufgezogen wurden, die die Wirklichkeit verbergen, starb Paula.“[3]Isabel Allende. Paula. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. 1995: 481 Einfühlsam schildert Isabelle Allende als Begleitende die letzte Lebenszeit und den Abschied von ihrer Tochter Paula.

Isabelle Allende musste nach und nach auf alles bei Paula verzichten. Sie verabschiedete sich zuerst von Paulas Intelligenz, gefolgt von deren Vitalität und ihrer Gesellschaft. Schlussendlich hatte sie sich auch von Paulas Körper zu trennen. Doch in Wirklichkeit ist Isabelle Allende viel geblieben: die Liebe, die sie ihrer Tochter gibt.

Über den Hingang ihrer Tochter schreibt sie, dass es nur Frieden und die unumschränkte Liebe derer, die bei ihr wachten, gab. Mit viel Wärme und Herzlichkeit beschreibt die Autorin das Hinübergehen ihrer geliebten Tochter. Das Leben ihrer Tochter habe ohne Kampf, ohne Angst und ohne Schmerz geendet. Isabelle Allende fühlte es, als das Lebensende ihrer Tochter Paula nahte.

Der Tod ihrer Tochter kam mit leisem Schritt daher. So beschreibt sie, dass Wochen vor Paulas Tod deren Sinne einer nach dem anderen ausfielen, Paula mit ständig geschlossenen Augen da lag und nicht mehr reagierte, wenn sie bewegt oder berührt wurde. Während des Abschiednehmens, so die Autorin, fühlten sich die Anwesenden von Paulas Geist erfüllt, als wären sie alle eins. Für Isabelle Allende gab es keine Trennung zwischen ihnen. Leben und Tod hatte sich für sie vereint. Berührend und ermutigend beschreibt Isabelle Allende die Stunden nach dem Tod ihrer Tochter. Sie macht Mut zum bewussten Abschiednehmen und Da-Sein.

Existenzielle Dimension in der letzten Lebenszeit

Sven Gottschild ist Chefarzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie des Uniklinikums des Saarlandes. Als Medizinstudent erlebte er den Tod seiner Oma mit. Die Wochen im Angesicht des Todes werden in seinem Buch „Leben bis zuletzt“ als sehr intensive Zeit für alle Beteiligten beschrieben. Gespräche werden im Angesicht der noch verbleibenden Zeit auf Erden konkret und reduzieren sich auf existenzielle Fragen wie „Warum sind wir hier? Was ist der Sinn des Lebens? Was bedaure ich?“[4]Sven Gottschling mit Lars Amend. Leben bis zuletzt. Fischer Verlag GmbH. 2016: 31. In „Leben bis zuletzt“ wird betont, dass Sterbende oft noch ganz viel reden und ihre Erkenntnisse und Weisheiten weitergeben wollen, wie: „Mach nicht den gleichen Fehler wie ich, sondern…“ (…) Versöhnung in letzter Sekunde, das Zusammenbringen zerstrittener Familienangehöriger und Frieden schaffen sowie Aufträge erteilen, das sind Dinge, die Sven Gottschild in seinem Buch beschreibt. In buchstäblich letzter Sekunde formuliert ein Sterbender: „Versprich mir, dass du dich um deinen Bruder kümmerst. Er braucht dich, auch wenn er das nicht sagen kann…“ Nach [5]EbendaSven Gottschild kann man Sterbenden in diesen Augenblicken direkt in ihre ungeschützte Seele blicken.

Damit das Sterben seinen Schrecken verliert…

„Leben bis zuletzt“ von Sven Gottschild beschreibt unter anderem den Weg des Abschiednehmens von Anna. Anna, ein fünfjähriges Kind, erlitt bereits den zweiten Rückfall ihrer Leukämie. Es wird der Augenblick beschrieben, als für Anna der Zeitpunkt kam, an dem sie sagte, dass sie es so nicht mehr jeden Tag aushalten könne und wolle. Zumindest stundenweise ein bisschen mit Medikamenten schlafen zu können, das war Annas Bitte. Bevor Ihre Freunde in den kommenden Tagen zu bestimmten Uhrzeiten an ihr Bett kamen, liess man sie wach werden und so konnte sie diese Zeit mit ihren Freunden verbringen. Die nächste Woche wird für Anna als Wechsel zwischen schlafen, aufwachen, sich verabschieden und wieder einschlafen beschrieben. Das Sterben von Anna wird in „Leben bis zuletzt“ friedlich, im Beisein ihrer Familie mit ganz niedrigen Dosierungen der sedierenden Medikamente beschrieben.[6]Ebenda S. 132

Die letzten Momente des Lebens und Sterbens …

In der Zeit des Abschiednehmens kommt die Zeit, in der mit Worten nicht mehr kommuniziert werden kann. Viele Sterbende sind in den Tagen und Stunden vor Ihrem Tod nicht mehr ansprechbar. Claudia Bausewein beschreibt in Ihrem Buch „Sterbende begleiten“, dass Angehörige oft erst jetzt merken, dass vieles nicht gesagt ist und manches noch zu klären wäre. Die Autorin macht Mut, Angehörige zu ermuntern, den Sterbenden das, was ihnen wichtig ist, noch zu sagen. Sie macht deutlich, dass es wichtig ist, den Sterbenden nicht allein zu lassen. Das bedeutet nach Bausewein nicht, dass ständig jemand bei ihm bleiben muss. Oft wird von Angehörigen der Wunsch geäußert, auf jeden Fall in den letzten Momenten des Lebens und Sterbens dabei zu sein. Angehörige weichen dann nicht mehr vom Bett des Sterbenden. Nach Bausewein kann das aber auch darauf hinweisen, dass Angehörige den Sterbenden nicht gehen lassen wollen. So passiert es immer wieder, gerade in solchen Momenten, dass der Tod dann eintritt, wenn der Angehörige doch für eine kurze Zeit das Zimmer verlassen hat oder aus Erschöpfung nach Hause gefahren ist. „Sterbende scheinen durchaus zu spüren, ob sie in den letzten Stunden oder Minuten vor dem Tod allein sein wollen, und auch, wem sie zutrauen, beim eigentlichen Sterben dabei zu sein. Nach einem solchen Tod ist es wichtig, den Angehörigen zu versichern, dass es nicht ihr Versagen war, nicht da gewesen zu sein, sondern dass der Sterbende es so gewählt hat.“[7]Claudia Bausewein. Sterbende begleiten. Ignatianische Impulse.Stefan Kiechle SJ und Willi Lambert SJ, Band 10: 62f

Die letzten Tage, Stunden und Momente des Sterbens wirken sehr nachhaltig auf An- und Zugehörige und bleiben tief in deren Erinnerung haften. Daher ist es so wichtig, dass Sterbende in Würde und bestmöglich symptomfrei sterben können.

Abschied leben lernen…

Abschied leben lernen stellt sowohl eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar, als auch eine ureigene Einladung und Herausforderung, unser eigenes Leben end-lich zu leben und in eigene Antworten auf existenzielle Fragen hineinzuwachsen. Auch wenn sich die eine oder andere Antwort im Laufe unseres Lebens aufgrund hinzugewonner Erfahrungen und Erkenntnisse noch verändern wird, so bleiben wir lebendig in der Auseinandersetzung mit unserem Leben und Tod.

Dr. Elisabeth Kohrt
Letzte Artikel von Dr. Elisabeth Kohrt (Alle anzeigen)

Fußnoten[+]

Das könnte dich auch interessieren …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert