Cicely Saunders: Hören Sie auf Ihre Patienten – sie werden Ihnen sagen, was sie brauchen

Interview mit Dame Cicely Saunders, die als Begründerin der modernen Hospizbewegung und Palliativmedizin gilt

Dieses Interview mit Dame Cicely Saunders, der Gründerin der modernen Hospizbewegung, ist ein Schmankerl. Es stammt aus dem Jahr 1996. Sie erfahren sowohl etwas über das Leben dieser Pionierin als auch über ihre Haltung zu Leben, Tod und die Begleitung Sterbenskranker sowie über ihre Einstellung zum Thema Spiritualität. Cicely Saunders formuliert ihre Hoffnung, nach dem Tod in einem himmlischen Chor singen zu dürfen… Sie ist 2005 gestorben.

In einem englischsprachigen Video am Ende des Interviews können sie diese außergewöhnliche Frau persönlich erleben.

Interview von Doris Wolter und Lisa Freund

Cicely_SaundersIn München fand im November 96 der von Rigpa Deutschland organisierte Hospiz-Kongress „Sterben, Tod und Leben“ statt, zu dem große Persönlichkeiten aus dem Bereich der spirituellen Sterbebegleitung sowohl aus christlichem als auch aus buddhistischen Feldern eingeladen waren. Der Dalai Lama hatte die Schirmherrschaft über die Konferenz übernommen und Dame Cicely Saunders hatte sich gleichermaßen dazu bereit erklärt. Sie ist Gründerin des St. Christopher’s Hospice in London und wird als die Mutter der modernen Hospiz-Bewegung betrachtet. Da sie selbst aus Altergründen nur eine Grußbotschaft senden konnte, haben wir ihr in London im April 1996 einige Fragen gestellt, die Kongressteilnehmer in der Erst-Veröffentlichung in der Kongress Ausgabe des Rigpa Rundbriefs lesen konnten.

Lisa Freund und Doris Wolter: Sie haben in Ihrem Leben sehr viel erreicht. Wie sind Sie zur Hospizarbeit gekommen, und was hat Sie dann dazu inspiriert, das St. Christopher’s Hospice in London zu gründen?

Dame Cicely Saunders: Ich nehme an, das geschah, weil ich in einer stark konfliktbeladenen Familie aufgewachsen bin. Außerdem war ich in der Schule sehr unglücklich und unbeliebt. Ich war einer dieser schwierigen Menschen, die sich nicht einfügen können, jedenfalls so lange, bis ich mit meiner Arbeit als Krankenschwester begann – seitdem passe ich in die Gesellschaft hinein und bin glücklich!

Gegen Ende des Krieges wurde meine Krankenschwesterausbildung für ungültig erklärt, und ich musste wieder studieren, um Sozialarbeiterin im medizinischen Bereich werden zu können. Auf der ersten Station, auf der ich arbeitete, begegnete ich einem jüdischen Patienten aus Warschau. Er war 40 Jahre alt und litt unheilbar an Krebs. Ich hatte das Gefühl, dass er Schwierigkeiten bekommen würde, also verfolgte ich seinen Fall weiter, als er in die Poliklinik verlegt wurde. Anfang 1948 wurde er in ein anderes Krankenhaus aufgenommen und ich besuchte ihn etwa 25mal während der letzten zwei Monate seines Lebens. Seine Not, seine Empfindsamkeit und seine tiefe Freundschaft – ich hatte ihn sehr gern – waren der Anfang.
Als wir über seinen letzten Willen sprachen, sagte er: „Ich möchte ein Fenster in deinem Heim sein“, und die Tafel im Empfangszimmer des St. Christopher’s Hospice – sie hängt direkt neben dem großen Fenster – wurde im Andenken an David Tasma angefertigt.

Später sagte er: „Ich möchte das, was in deinem Geist und deinem Herzen ist“. Als ich später darüber nachdachte, erkannte ich, dass dies alles umfasst: Forschen, Lernen, Verstehen, jedoch immer mit freundschaftlicher Gesinnung im Herzen. Nachdem er gestorben war, spürte ich eine sehr starke Zuversicht, dass er seinen eigenen Weg gefunden und seine eigene Reise in geistiger Freiheit angetreten hatte. Als agnostischer Jude hatte er wieder Frieden mit dem Gott seiner Vorfahren geschlossen. Und obwohl ich überzeugte Christin war, wollte ich nie etwas anderes, als dass er zu seinem eigenen jüdischen Glauben zurückfindet. So sind die verschiedenen Formen von Offenheit, die der Offenheit eines Fensters gleichen, die drei Grundlagen der Hospiz-Arbeit: die Offenheit des Geistes in Verbindung mit der Offenheit des Herzens und geistige Freiheit.

Gibt es Erfahrungen mit der Begleitung Sterbender im letzten Abschnitt ihres Lebens, die einen besonders tiefen Eindruck auf Ihre Arbeit gemacht haben?

Ich denke dabei an zwei Menschen. Ich habe am St. Joseph’s Hospice sieben Jahre lang daran gearbeitet, eine verbesserte Schmerzbehandlung zu entwickeln – ich hatte eine spezielle Ausbildung als Ärztin absolviert, um daran zu arbeiten. Hier traf ich einen anderen Polen aus dem Osten des Landes. Er war ein sehr würdevoller, aristokratischer Mann, der – auf seine sehr stille Art – sieben Monate lang auf der Station blieb. In den letzten drei Wochen seines Lebens lernte ich ihn gut kennen, und wir kamen uns sehr nahe.

Ich erinnere mich, dass er mich fragte: „Werde ich sterben?“

Ich antwortete mit einem klaren: „Ja.”

Dann fragte er: „Wird es noch lange dauern?“

Und ich sagte: „Nein.“

Er schaute zu mir hoch. „War es schwierig für Sie, mir das zu sagen?“

„Ja, das war es.“

Und er antwortete: „Danke. Es ist schwierig, es gesagt zu bekommen, aber es ist sicher genauso schwierig, es auszusprechen.“

Zu dieser Zeit begannen wir, uns sehr zu mögen. Ich liebte Anthony. Ich erinnere mich, dass Anthony zu Beginn dieser drei Wochen sagte: „Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben.“ Später, einen oder zwei Tage vor seinem Tod, sagte er: „Ich möchte nur das, was richtig ist.“
Es war eine Reise voll spirituellen Wachstums, und er durchlebte sein persönliches Gethsemane. Er starb sehr friedlich am 15. August, an Maria Himmelfahrt – für einen katholischen Polen ein wunderbarer Tag zum Sterben.

Durch die Begegnung mit diesen beiden polnischen Männern, Anthony und David, erkannte ich, dass ich noch eine Menge über Schmerzkontrolle und vieles andere mehr zu lernen hatte. Als Anthony starb, plante ich bereits die Gründung des St. Christopher’s Hospice, das speziell der Forschung und Entwicklung gewidmet sein sollte. Es war nicht das erste Hospiz, aber das erste Hospiz, das sich nicht nur mit der Pflege befasste, sondern sich auch in der Forschung und Ausbildung engagierte – aus diesem Grund begann mit ihm gewissermaßen die Hospiz-Bewegung.

Eine weitere, wichtige Person war mein Mann, Marian Bohusz-Szyszko. Er war ebenfalls Pole, und ich sorgte für ihn, als er unter immer stärkerer körperlicher Behinderung litt und eine lebensbedrohliche Krankheit nach der anderen hatte. Er gab seine Malerei jedoch niemals ganz auf. Ich sorgte über zehn Jahre für ihn. In den letzten vier Jahren seiner Krankheit haben mir andere Menschen bei seiner Pflege geholfen, und die letzten sechs Wochen seines Lebens verbrachte er im St. Christopher’s Hospice. Ich erinnere mich, dass er eine Menge wundervoller Dinge sagte. Er sagte: „Ich bin vollkommen glücklich. Ich habe in meinem Leben alles getan, was ich tun wollte, und jetzt bin ich bereit zu sterben.“ Er hatte ein langes, zufriedenes und erfülltes Leben, als er mit beinahe 94 Jahren starb. David hingegen war mit 40 und Anthony mit 60 Jahren gestorben – sie hatten noch kein so erfülltes Leben gehabt.

Ich denke, die Hospiz-Arbeit versucht den Menschen Folgendes zu sagen: „Du bist wertvoll. Vielleicht bist du nicht sehr glücklich mit deinem Leben, aber wir können dir helfen, mit dir selbst glücklicher zu werden – mit dieser einzigartigen Person, die niemand sonst sein kann.“ Durch unsere Arbeit – die Schmerzbehandlung, die Gespräche mit den Familien, unsere häusliche Pflege, wo immer sie möglich ist – und für die meisten Menschen ist sie das – wollen wir den Menschen Raum geben, sie selbst zu sein und ihre eigene Reise zu machen.

Wie können Sie im Prozess der inneren Heilung helfen, wenn das Leiden des Sterbenden Ihnen beinahe das Herz bricht?

Wir können die Sterbenden vielleicht nicht um all ihren Schmerz, so aber doch um einen wesentlichen Teil ihres körperlichen Schmerzes erleichtern. Die Qual einer alleinstehenden jungen Mutter, die ihre Kinder zurücklassen muss, können wir ihr nicht abnehmen. Wir können mit ihr darüber reden. Wir können nicht einmal sagen: „Ich verstehe dich“, weil wir es nicht wirklich verstehen. Wir können nur sagen: „Ich werde nicht weglaufen“. Wir vertrauen dabei sehr auf unser jeweiliges Pflegeteam und dessen Beziehung zu den Patienten sowie auf das Team von Sozialarbeitern und Geistlichen, die möglicherweise sehr tiefgehende Beziehungen zu den schwer Leidenden haben. Ich kam aus christlicher Berufung zu dieser Arbeit, und eine Reihe unserer leitenden Mitarbeiter sind Christen, aber heutzutage sind die Christen keineswegs in der Mehrheit. Doch alle, die hier arbeiten, fühlen sich dem Dienst am Menschen verpflichtet und sind fast immer bereit, länger bei jemandem zu bleiben, der sie braucht, oder Menschen auch einfach allein zu lassen, wenn sie es wünschen.

Die hier arbeitenden Christen sind sich dessen bewusst, dass sie nicht die einzig verfügbare Hilfe sind. Der Geist Gottes ist oft ganz unausgesprochen präsent, und alles was wir sagen, könnte sehr störend wirken. Wichtiger ist also unsere Fähigkeit zuzuhören – jemand, der stirbt, will oft nicht hören, was wir sagen, sondern er möchte vielmehr, dass wir hören, was er zu sagen hat.

Wenn nun jemand gestorben ist – was hilft den trauernden Hinterbliebenen?

Erinnerungen. Und auch der Glaube. Ich habe sehr um Anthony getrauert, weil wir keine Vergangenheit hatten – wir haben nur eine sehr kurze Zeit miteinander verbracht, die von großer Intensität war. Marian, meinen Mann, der letztes Jahr gestorben ist, kannte ich mehr als 30 Jahre, und wir waren 15 Jahre davon verheiratet. Was mir geholfen hat, waren die Briefe von Menschen, die ihn gekannt hatten, das Niederschreiben dessen, was er im Laufe der Jahre zu mir gesagt hatte und meine eigene Gewissheit, dass er glücklich war. Aber für jemanden, der wirklich daran glaubt, dass der Tod das Ende ist, ist das etwas anderes. Doch selbst dann denke ich, könnte man sagen, dass die Sterbenden eigentlich nicht sterben, weil sie – wie einer unserer atheistischen Kollegen mir sagte – für immer ein Teil von uns werden. Erinnerungen können sich natürlich verwirren, und es wird neben glücklichen auch traurige Erinnerungen geben. Für diejenigen, die den Glauben haben, ist es gut zu wissen, dass Gott niemals vergisst.
Ich denke, dass es in erster Linie darum geht, den trauernden Menschen zu helfen, dankbar für das zu sein, was gut war, ins Reine zu kommen mit dem, was schwierig war, und ihnen zu zeigen, dass sie wichtig sind und sie jetzt etwas Neues beginnen können. Aber es gibt Menschen, die niemals über den Verlust eines anderen Menschen hinwegkommen.

Es überrascht mich, wie wenige dieser Menschen tatsächlich Selbstmord begehen. Die meisten halten durch. Und ich denke, wir müssen die Zuversicht haben, dass sich – obwohl Zeit diese Lücke nicht ausfüllt – um die Lücke herum etwas anderes entwickelt.

Sie haben sich in der Hospiz-Arbeit um die Betreuung Sterbender gekümmert. Wie haben Sie es vermieden, sich völlig zu verausgaben? Oder besser: Wie sind Sie damit umgegangen, völlig ausgebrannt zu werden?

Ich bin nicht ausgebrannt. Wir nennen das hier nicht Burnout, ‚ausgebrannt werden‘, obwohl einige Leute unter Erschöpfungszuständen leiden! Die größte Unterstützung bekomme ich von Mitarbeitern und bei den Treffen unseres Stationsteams. Wenn es einen besonders schwierigen Todesfall gegeben hat, jemanden mit einer qualvollen Vergangenheit – wie das Erleben eines Konzentrationslagers oder etwas ähnliches – und dieser Mensch hatte große Schwierigkeiten mit dem Sterben, dann glaube ich, sagen zu können, dass seine oder ihre Probleme dort gelöst und geklärt werden, wo er oder sie hingehen wird. Aber einige andere Leute können das nicht sagen. Dann geht es darum, sich auszutauschen und miteinander zu reden.

Wir haben eine vollkommen vertraulich arbeitende Gruppe von Sozialarbeitern und Geistlichen zu unserer Verfügung, und etwa 35 Menschen pro Jahr nehmen die Beratung der Sozialarbeiter in Anspruch. Aber es sind fast immer Schwierigkeiten zu Hause, und nicht die Arbeit selbst, die die Mitarbeiter erschöpfen.

Meine Mutter starb hier, und mein Bruder sagte hinterher zu mir: „Effektivität hat etwas sehr Tröstliches“. Effektivität ist tröstlich für diejenigen, die sie ausüben, aber sie tröstet auch denjenigen, der sie gibt. Wenn man etwas von seiner Arbeit versteht und bereit ist, ständig etwas über die Bedürfnisse jedes einzelnen hinzuzulernen, und wenn man gleichzeitig weiß, wie man mit Schmerzen umgeht und genug Selbstvertrauen hat, um einer gequälten oder verärgerten Familie oder einem ärgerlichen Patienten ruhig zuzuhören, dann vermittelt das Trost.

Es gab also niemals eine Zeit, in der Sie eine wirkliche Pause gebraucht hätten? Hat Ihre Arbeit Sie immer nur bereichert?

Ja. Ich habe 1948 meine Arbeit mit Sterbenden begonnen und habe seitdem nicht mehr damit aufgehört.

Das ist unglaublich! Und wie entspannen Sie sich?

Ich habe gerne Vögel beobachtet und gesungen. Ich war erste Sopranistin – ich habe aus voller Kehle gesungen, und ich habe es geliebt. Aber als mein Mann gebrechlich wurde und ich die hohen Noten nicht mehr singen konnte, musste ich beides aufgeben. Dann habe ich mich in seiner Gegenwart entspannt, habe die Natur im Fernsehen genossen – auf vielen Videos – und habe mich so entspannt. Ich leide jetzt unter starker Arthritis, kann also nicht spazieren gehen. Außerdem muss ich am grauen Star operiert werden und kann deswegen im Moment keine Vögel beobachten. Aber das ist in Ordnung.

Ich höre oft von Menschen, die in einem Hospiz arbeiten oder einen sterbenden Freund oder Familienangehörigen betreuen, sich zwischendurch nicht so entspannen können und daher völlig ausgebrannt werden.

Diejenigen, die ursprünglich den Begriff ‚Burnout‘ gebraucht haben – ich denke, er kommt aus Amerika – haben meist einen Vollzeitjob gehabt und nebenbei noch ehrenamtlich gearbeitet. Sie haben zu viel gearbeitet! Und sobald jemand das Gefühl hat, dass nur er oder sie der einzige Mensch ist, der etwas tun kann oder den Patienten verstehen kann, dann bekommt man Probleme. Bei uns ist das anders, weil wir als Team arbeiten. Mein Mann war ein sehr warmherziger und liebevoller Mensch und außerdem ein großartiger, dominanter Künstler mit einem leichten grundlegenden Egoismus, den alle Künstler haben müssen, und er war sehr erfrischend.

Haben Sie ein Lieblingsgebet?

Es gibt etwas, was ich kürzlich gelesen habe. Ich habe es für eine Patientin unseres Hospizes einige Tage vor ihrem Tod gebetet – sie war fromme Katholikin. Es stammt vom Heiligen Augustinus:

Wir werden ruhen und wir werden sehen,
wir werden sehen und wir werden lieben,
wir werden lieben und wir werden preisen – am Ende, das kein Ende ist.

Aber St. Christopher’s ist nicht so christlich, wie man glauben könnte, wenn ich so rede. Ein großer Teil dessen, was wir geben, wird in Form von Pflege und Sorge für eine gute Unterbringung im Hospiz gegeben und das oft mit sehr wenigen Worten.

Sie werden von vielen Gästen des Hospizes besonders dafür geschätzt, dass Sie Menschen nicht zum christlichen Glauben bekehren wollen.

Nein, wir haben ja überhaupt nicht das Ziel, dass die Menschen so denken sollen wie wir. Wir möchten, dass sie auf ihre eigene Weise denken, und zwar so tiefgründig, wie sie können. Einige Leute kümmern sich nicht darum, sie sind zu erschöpft, und ihnen möchten wir nur helfen zu vertrauen – in das zu vertrauen, was gerade mit ihnen geschieht. Dies kann ihnen helfen, in das Mysterium zu vertrauen, in das sie bald eintreten werden. Vielleicht ist das auch ein Mysterium der Liebe.

Wie stellen Sie sich das Leben nach dem Tod vor?

Nun, ich habe gerade den Spruch des Heiligen Augustinus rezitiert. Ich hoffe, wir werden uns wiedererkennen. Weil ich so gerne singe, gefällt mir persönlich der Gedanke, in einem himmlischen Chor zu singen, in dem es einerseits eine Rolle spielt, dass man dabei ist, andererseits aber auch nicht so wichtig ist, weil man eben nur eine von vielen ist. Für mich ist das Singen von Lobliedern ein wunderbares Bild von Individualismus innerhalb einer Gemeinschaft. Ich denke, folgender Satz hat mir am meisten geholfen, als Anthony starb: „Lasset uns eingehen in seine Wohnungen, niederfallen vor dem Schemel seiner Füße!“ (Psalm 132:1-7). Vielleicht gibt es nach dem Tod eine Art des Dienens und auch ein Lernen.

Was verstehen Sie unter dem Begriff ‚spiritueller Beistand für die Sterbenden‘?

Es bedeutet, offen zu sein, um den Sterbenden – in welcher Weise auch immer – bei ihrer Suche nach einem Sinn in ihrem Leben und ihren wichtigsten inneren Werten beizustehen, auch wenn sie über sich selbst hinausgehen bei der Suche nach dem, was sie als Wahrheit ansehen. Ich denke, das ist der spirituelle Bereich, das spirituelle Bedürfnis.

Zurzeit arbeitet eine Forscherin hier an einem Drei-Jahres-Projekt über spirituelle Bedürfnisse. Das Thema ihrer Dissertation lautet „Die Suche nach Sinnquellen und Wertgefühl bei Sterbenden“. Darum geht es uns doch im Leben auch: Sinn und Selbstwert zu finden.

Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Hospiz-Arbeit in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren entwickeln?

Wir haben Kontakt mit Menschen aus über 70 Ländern der Welt, in denen die Hospiz-Betreuung weiter entwickelt wird. Solange wir die Balance bewahren zwischen klinischer Qualifikation, psychologischem Gewahrsein, solange wir die betroffenen Familien einbeziehen und spirituelle Bedürfnisse berücksichtigen, so lange gibt es meiner Meinung nach große Hoffnung für die Zukunft der Hospiz-Arbeit. Schließlich gibt es in den verschiedenen Kulturen einen großen Bedarf danach.

Haben Sie einen essentiellen Rat für Menschen, die mit Sterbenden arbeiten?

Das allererste, um das Sie sich kümmern sollten, ist eine wirklich wirksame Schmerzbehandlung, denn bevor Schmerz und Krankheit nicht unter Kontrolle sind, können die Sterbenden nicht mit ihrer spirituellen Suche beginnen – sie können kaum wirklich leben. Die Schmerzbehandlung kommt also an erster Stelle. Anschließend sollte man die gesamte Familiensituation betrachten, sich mit seinen Kollegen besprechen, und als Team arbeiten. Und hören Sie niemals, niemals auf zuzuhören: Ihre Patienten werden Ihnen sagen, was sie brauchen. Und vielleicht erfahren sie mehr Unterstützung durch Poesie, Dichtung und Gemälde als durch irgendeine Religion. Das Wichtigste ist: Hören Sie Ihren Patienten zu; sie werden Ihnen sagen, was sie brauchen.


Quelle

buch_weisheitsfunkenSterben, Tod und Leben – Zwei Buddhistinnen im Gespräch mit der Begründerin der christlichen Hospiz-Bewegung Dame Cicely Saunders: Hören Sie auf Ihre Patienten – Sie sagen Ihnen, was sie brauchen! London, 9.4.1996, (Rigpa Rundbrief 3/96) Interview: Lisa Freund und Doris Wolter in: Weisheitsfunken, unterwegs zu einem authentischen Dharma im Westen, Manjugosha-Verlag.

Wir bedanken uns beim Manjugosha-Verlag für die freundliche Genehmigung zum Abdruck dieses Interviews bei Elysium.digital aus dem abgebildeten Sammelband.

 


Interview mit Dame Cicely Saunders (in englischer Sprache):

Lisa Freund
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