„Unser Maßstab ist der tatsächliche Bedarf“

Die Ricam Hospiz Stiftung in Berlin plant ein teilstationäres Hospiz: ein Pionierprojekt - Interview mit Maik Turni, Leiter der Öffentllichkeitsarbeit im Ricam Hospiz in Berlin

Modellzeichnung des geplanten Tages-Hospizes

Eine außergewöhnliche Idee wird gerade umgesetzt, und zwar in Berlin. Schon ab 2019 gibt es das erste teilstationäre Hospiz in der Hauptstadt. Es ermögliche einen gut betreute und in eine fürsorgende Gemeinschaft eingebundene Versorgung – auch tageweise oder für kürzere Zeiträume – für Menschen in der letzten Lebensphase. Es ist ein flexibles Angebot, wenn die häusliche Versorgung nicht mehr ausreicht und eine stationärer Aufenthalt noch nicht nötig ist.

Die Ricam Hospiz Stiftung plant ein teilstationäres Hospiz. Es soll schon 2019 bezugsfertig sein. Ihr könntet doch das Ricam Hospiz ausbauen oder ein zweites stationäres Hospiz gründen. Damit habt ihr genügend Erfahrungen gemacht. Wie seid ihr überhaupt auf die Idee gekommen, ein Tageshospiz zu bauen?

Die Idee, ein Tageshospiz zu gründen, entstand durch unsere ambulante Hospizarbeit. Dort lernen wir sehr häufig Menschen kennen, die mit ihrer Erkrankung in einer Art Zwischenwelt unseres palliativen Versorgungssystems lebten: Hausbesuche reichen in diesen Fällen nicht mehr aus, doch vollstationäre Angebote sind unnötig.

Unsere Hospizarbeit kennt bislang nur zwei Welten – die (voll-)stationäre und die häusliche. Der Blick nach England, ins Mutterland der Hospizbewegung zeigt: Flexible Angebote sind wirksam. Es kann Tage geben, wo man ein stationäres Setting braucht, weil es zu Hause nicht gut funktioniert, um im Anschluss wieder tagelang zu Hause gut zurecht zu kommen. Deshalb erweitern wir nicht einfach ein Modell, nur weil wir uns damit gut auskennen. Unser Maßstab ist der tatsächliche Bedarf. An ihm passen wir unsere Angebote an. Sicher fehlen auch stationäre Plätze. Aber der Kern unserer Bemühungen geht dahin, zu ermöglichen, dass Menschen bis zuletzt dort bleiben können, wo sie sich meist am wohlsten fühlen – in den eigenen vier Wänden.

Kannst du uns erklären, was das ist, ein teilstationäres Hospiz. Wer soll es nutzen?

Ein teilstationäres – oder Tages-Hospiz ermöglicht einen tageweisen Besuch, ein- oder mehrmals pro Woche. Vergleichbare Angebote sind in den Bereichen Demenz- oder psychische Erkrankungen bekannt. Hier gibt es Tagespflegeeinrichtungen bzw. Tageskliniken. Im palliativen Kontext sind die Tagesangebote relativ rar. Die Gruppe der Menschen, die ein teilstationäres Hospiz nutzen, entspricht jener, die wir heute bereits palliativ ambulant oder stationär versorgen. Sie leiden an einer unheilbaren, fortschreitenden und aller Wahrscheinlichkeit zum Tode führenden Krankheit.

Und hier sprechen wir selbstverständlich nicht von den letzten Stunden oder Tagen im Leben eines Menschen. Die Lebenserwartung umfasst ja oft eher Wochen und Monate, in denen Menschen durch einen Hospizdienst oder in einem stationären Hospiz versorgt werden. Es soll vor allen Dingen jene Menschen stärken, die im Falle schwerer und lebensverkürzender Krankheit bis zuletzt zu Hause bleiben möchten. Und das sind immerhin 3 von 4 Menschen in Deutschland.

Wie soll die Betreuung der Kranken und ihrer Angehörigen aussehen? Formuliere doch mal eure Vision.

Ich möchte das an einem Beispiel erklären. Nehmen wir Roman, einen 39-jährigen Mann, verheiratet, mit beiden Beinen mitten im Leben. Diagnose: Hirntumor. Die Ärzte prognostizieren ihm nur noch ein knappes Jahr Lebenszeit. Er möchte diese Zeit mit seiner Familie verbringen. Seine Frau Anne ist berufstätig, die Kinder noch nicht in der Schule und oft mit Roman allein. Doch schnell wird klar: Das Leben zu Hause mit Kindern kann er mit seinen Gedächtnislücken und epileptischen Anfällen nicht bewältigen. Er nutzt nun werktags das Tageshospiz tagsüber bis seine Frau wieder von der Arbeit zurückkehrt. Gemeinsam mit Anne bringt er an guten Tagen die Kinder in die Kita. Anschließend setzt ihn seine Frau im Tageshospiz ab und fährt dann weiter zur Arbeit. An schlechten Tagen wird er abgeholt. Im Tageshospiz kann er lindernde Therapieangebote von Physio- bis hin zur Musiktherapie wahrnehmen, erhält Unterstützung bei der Pflege und der Medikamenteneinnahme, kann mit seiner Ärztin sprechen und sich mit anderen austauschen. Um die Mahlzeiten braucht er sich nicht zu sorgen. Am Abend und an den Wochenenden ist er wieder mit seiner Familie zusammen. Zusätzlich wird die Familie vom ambulanten Hospizdienst unterstützt.

Die wahre Geschichte hat ein anderes Ende: Roman ist gestorben. Aber nicht zu Hause. Bei uns im stationären Hospiz. Er lebte 8 Monate bei uns. Seine Kinder sah er nur noch für ein, zwei Stunden an den Wochenenden. [Namen geändert]

Portrait Maik Turni

Maik Turni

Die Hospizbewegung hat sich auf die Fahnen geschrieben „ambulant geht vor stationär“. Wie ordnest du das Tageshospiz ein? Was ist der Unterschied zu einem stationären Hospiz einerseits und einem ambulanten anderseits?

Unser Projekt umfasst alle drei Welten: die ambulante, die teilstationäre und die stationäre. So wird es in einem Haus erstens unseren aufsuchenden Hospizdienst geben, dann das Tageshospiz mit zwölf Tages- und vier Nachtplätzen und schließlich ein stationäres Hospiz mit 8 Betten. Das Tageshospiz ist gewissermaßen die Brücke zwischen häuslicher und stationärer Versorgung. Das Ziel dabei ist es, das eigene Zuhause als Lebens-Mittelpunkt zu bewahren. Es ist gewissermaßen eine Ergänzung der ambulanten Hospizarbeit. Wir stärken das Zuhause durch ein teilstationäres Hospizangebot, das bei Bedarf tageweise genutzt werden kann, das den Patienten und Angehörigen auch Coping-Strategien vermittelt, wie zu Hause die Situation entspannt und stabilisiert werden kann und das durch die Nähe zum stationären Hospiz auch vermittelt, dass ein Hospiz kein Siechenheim ist.

Einigen wird ein vollstationäres Hospiz immer ein Anker, Rettung und letzte Herberge sein müssen. Doch in vielen Fällen werden Menschen, die heute noch einen Platz in einem stationären Hospiz als letzten Ausweg sehen, durch ein teilstationäres Hospiz passende Hilfe erhalten und in ihrer vertrauten Umgebung sicher leben können – bis zuletzt.

Es gab schon mal früher in Deutschland Versuche, ein Tageshospiz zu bauen und zu betreiben, so weit ich weiß in NRW. Das gelang nicht. Wieso glaubt ihr, es gibt den Bedarf heute und dieses Haus hat Zukunft?

Wir können recht gut einschätzen, wo der Bedarf zu Hause liegt und welche Hilfe erforderlich ist und wäre. In unserem Einzugsbereich im südlichen Berlin leben eine halbe Million Menschen. Über 7.000 Menschen davon sind hier in den letzten fünf Jahren an Krebs erkrankt. Diese Zahl bleibt relativ konstant; denn jedes Jahr erkranken 1.000 weitere Menschen an bösartigen Tumorerkrankungen und ungefähr die gleiche Anzahl stirbt jedes Jahr an Krebs.

Die Kapazität des künftigen Tageshospizes mit zwölf Plätzen liegt bei ca. 240 Patienten pro Jahr.

Durch unser Belegungsmanagement könnten wir bereits heute ausreichend Patienten identifizieren, die Bedarf an einem Tageshospiz haben und es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nutzen würden. Konservativ geschätzt, liegt die Personenzahl, die die Indikationen (Diagnose, Symptome, Transportfähigkeit, standortnaher Wohnort = Radius von ca. 30 Minuten Fahrweg) für die Nutzung des Tageszentrum erfüllen, aber wesentlich höher und zwar bei mindestens 1.000 Patienten pro Jahr. Es ist zudem zu erwarten, dass sich die Nachfrage zusätzlich erhöht, sobald das Tageszentrum eröffnet ist und seine Wirksamkeit Kliniken, Ärzten und Pflegefachkräften im Einzugsbereich bekannt ist. Durch unsere gute Vernetzung mit Kliniken, Praxen und Pflegediensten wird dieses Ziel sicher schnell erreicht.

Ihr habt Spendenkampagnen für das Tageshospiz initiiert, z.B. die Chance einen symbolischen Baustein für 500 Euro zu kaufen. Die Sponsoren erhalten einen ausgedruckten Baustein mit einem schönen Danke darauf und einen symbolischen Baustein, den sie in eine Gebäudeskizze kleben dürfen, die im Eingangsflur zum Fahrstuhl, der zum Ricam führt, an der Wand zu finden ist. Alle Besucher von Ricam laufen daran vorbei, denn ohne Fahrstuhl geht bei Ricam ja gar nichts. Man muss bis in den fünften Stock fahren. Das Hospiz ist auf dem Dach mit seinem Wintergarten, den Terrassen und dem Blick über Berlin-Neukölln. Wie erfolgreich sind eure Spendenkampagnen für ein Projekt, das es in Deutschland so noch nicht gibt?

Wir benötigen mindestens 500.000 Euro Eigenkapital für den Neubau, der das ambulante Hospiz, das Tageshospiz und ein kleines stationäres Hospiz umfasst. Davon sind nun bereits über 200.000 Euro Spenden eingeworben. Also – wir haben noch einen guten Weg vor uns.

Es gibt mittlerweile Förderer, die auf Geschenke zu ihrem Geburtstag verzichten und stattdessen um Spenden bitten. Schnell kommt dann ein Baustein zusammen. Das ist ein schöner Erfolg!

Mit der Kampagne https://www.ein-augenblick-leben.de haben wir letzten Herbst begonnen, das Projekt via Facebook bekannt zu machen. Bekannte Schauspieler, wie der Grimme-Preisträger Jörg Schüttauf, Dana Golombek und Hansi Jochmann unterstützen die Aktion, aber auch Sportler, Politiker und Unternehmen.

Du bist hauptamtlicher Mitarbeiter im Ricam-Hospiz. Was ist deine Aufgabe?

Grundsätzlich besteht meine Aufgabe darin, die Beziehungen zu unseren verschiedenen Bezugsgruppen auszubauen, um das Thema Tod, Trauer, Sterben und Hospiz in die Öffentlichkeit zu bringen. Damit verbunden ist das Werben um Förderung zugunsten des Ricam Hospizes. Diese Ziele können nur erreicht werden, wenn alle Maßnahmen aufeinander abgestimmt umgesetzt werden. Das geschieht off- und online, u.a. durch Corporate Publishing (Print, Web, Video), Charity-Events, Kampagnen, Pressearbeit, Dialogmarketing, Kooperationen mit Unternehmen und Sponsoring, klassische Werbung… und die Evaluation und Nachsteuerung aller eingesetzten Instrumente.

Wie bist du überhaupt zu Ricam gekommen?

1999 habe im Rahmen meiner Krankenpflegeausbildung einen mehrwöchigen Einsatz im Ricam Hospiz absolviert. Später während meines Studiums habe ich in der ambulanten Pallliativversorgung gearbeitet, im Berliner Arbeitskreis Palliative Pflege und im SAPV-Netzwerk Berlin mitgewirkt. Dort erhielt ich dann eines Tages die Frage, ob ich nicht die Öffentlichkeitsarbeit des Ricam Hospizes unterstützen könnte. Erst waren es einzelne Aufträge, nach gut einem Jahr folgte ich dem Ruf der Geschäftsführung und nahm das Abenteuer an, die Öffentlichkeitsarbeit eines Hospizes zu leiten.

Hast du etwas, was du unseren Usern mit auf den Weg geben willst, einen Text, ein Lied, einen weisen Satz?

Vielleicht passt Wittgensteins Satz ins digitale Elysium: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

Wir danken dir für dieses Gespräch.


Zusätzlich Website https://www.ricam-hospiz.de
Video übers stationäre Ricam Hospiz https://www.youtube.com/watch?v=JOKw7N4sIp4
Kampagnenwebsite: https://www.ein-augenblick-leben.de
Kampagnenvideo über Jörg Schüttauf https://www.youtube.com/watch?v=KiaEabMj8bo
Facebook: https://www.facebook.com/Ricam.Hospiz

Zum Autor:
Maik Turni, Jahrgang 1975, seit 2010 leitet er die Öffentlichkeitsarbeit des Ricam Hospizes, seit 2011 ist er Mitglied im Vorstand und Pressesprecher der Ricam Hospiz Stiftung. Davor war er freiberuflich für die Kommunikation verschiedener Unternehmen tätig. Studium der Film-/Publizistik- und Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin, Kompaktstudium Public Relations an der Deutschen Presseakademie. Maik Turni arbeitete knapp 10 Jahre als examinierter Krankenpfleger in der allgemeinen und spezialisierten ambulanten Palliativversorgung.

Lisa Freund
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2 Antworten

  1. 31. März 2017

    […] Zuhause leben und sterben – doch was ist zuhause? „Unser Maßstab ist der tatsächliche Bedarf“ […]

  2. 31. März 2017

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