Die fünfundsiebzigste Himmelfahrt Christi

Wir schätzen Christi Himmelfahrt als Feiertag, genießen das verlängerte Wochenende. In den 30er Jahren wurde er zum Vatertag erklärt und seither feiert Mann mit Freunden und reichlich Sprit dieses Fest, bei dem es eigentlich auf den Spirit ankommt. 39 Tage nach Ostern ist Christus aufgefahren gen HImmel. In dieser Zeit hat er sich seinen Jüngern immer wieder gezeigt. An Himmelfahrt kehrt er zurück an die Seite seines Vaters. Er lehrt die Gläubigen, dass der Tod nicht das Ende ist. Auferweckung an Ostern, drei Tage nach seinem Tod und Himmelfahrt erzählen von der Unsterblichkeit der Seele. Himmelfahrt wird bis heute vielfältig interpretiert. Unser Autor, schreibt, wie er dazu steht.

Baumkronen vor blauem HimmelEin sechsundsiebzig jähriger Mensch, in meinem Fall ein Mann, im Oktober geboren, kann auf fünfundsiebzig Feiertage Christi Himmelfahrt zurückblicken. Die Tage der Kindheit einmal abgezogen, Phasen nicht berücksichtigt, in denen anderes im Vordergrund stand – es blieben genügend Gelegenheiten, über das event zu stolpern.

Was heißt hier stolpern? Er hatte sich mit einer Flut von Einwänden, Zweifeln, Widersprüchen und Gegenargumenten, aber auch mit wohlwollender Zustimmung, geistreichen Interpretationen und überraschenden theologischen Kapriolen auseinanderzusetzen.

Himmelfahrt wurde entmythologisiert, kindgerecht erzählt, wissenschaftlich widerlegt, als Vatertag umgedeutet, archetypisch erklärt historisch-kritisch analysiert, religions-psychologisch eingereiht, literarisch durchleuchtet, spirituell aufgeladen, religionsgeschichtlich eingeordnet, im Bibliodrama nachempfunden oder einem überholten Weltbild zugerechnet. Kennen Sie weitere Varianten?

Im günstigsten Fall erschien uns eine Variante, je nach persönlicher Gestimmtheit, Zeitgeist und Stand theologischer Forschung als plausibel. Alles hat seine Zeit. Und wem an einem zyklischen Verständnis der Jahreszeit gelegen ist, der – Frauen sind mitgemeint – wird dem event immer wieder etwas abgewinnen können.

Aber mit der fünfundsiebzigsten Auflage von Himmelfahrt schwindet das Interesse, zumindest die Aufmerksamkeit. Im siebenundsiebzigsten Lebensjahr steht das eigene Lebensende vor Augen. Mir gefällt die Vorstellung – sie macht mich vergnügt – ich befände mich in meinem Leben auf dem Rückweg – wohlgemerkt: nicht auf dem Rückzug. Auf dem Hinweg, auf dem Weg hinein mitten ins Leben, habe ich mich beteiligt an den Auseinandersetzungen um das „richtige“ Verständnis von Himmelfahrt. Nun, auf dem Rückweg ist das richtige Verständnis nicht mehr meine Sorge. Ich frage mich, wohin mich wohl mein Rückweg führen wird. Eine Variante ist: in den Himmel.

Alexander Kaestner
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