Das Leben ist wie eine Seifenblase

Urplötzlich ist ein Mann dem Tode nahe - eine persönliche Erfahrung

Es ist kein Freitag wie jeder andere. Am Abend möchte ich den Vortrag eines buddhistischen Gelehrten besuchen, der in einem Zentrum in Berlin-Kreuzberg stattfindet. Es ist der Abt eines Klosters im Allgäu, der Nachfolger einer berühmten Nonne, die in Deutschland Zentren gegründet hat. Das Ambiente für den Vortrag entspricht dem buddhistischen Rahmen. Rote Zafus, Baumwollmatten sowie Sitzkissen und Decken stehen den Teilnehmern neben einigen Stühlen zur Verfügung. Man sitzt üblicherweise auf dem Boden. Gegenüber vom Eingang, am anderen Ende des Raumes befindet sich ein gütig dreinschauender, großer Buddha aus Metall, der im Lotossitz auf einem Thron ruht, umgeben von einem kleinen Altar, geschmückt mit Lichtern und anderen Utensilien. Der Raum ist licht und hell, der Fußboden aus Holz, ein wohltuend entspanntes Ambiente honigfarben und bordeauxrot. Das Zentrum ist umgeben von einem üppigen Garten. Es liegt in einer Plattenbausiedlung im Osten Berlins. Eine Oase inmitten des Stadtdschungels. Neben dem Buddha ist der Sitz des Lehrers, etwas erhöht. Er kann von seinem Platz aus einen großen Gong anschlagen. Die Teilnehmer sitzen dem Lehrer gegenüber. Man betritt den Meditationsraum, der jetzt zum Vortragsraum wird, ohne Schuhe.

Gleich beginnt der Vortrag. Ich bin im Vorraum, hänge meinen Mantel auf, stelle die Schuhe ins Regal. Plötzlich gibt es eine große Unruhe. Zahlreiche Menschen strömen, ja fliehen geradezu aus dem Meditationsraum. Einige haben bleiche Gesichter, andere Tränen in den Augen, fast alle sind irritiert oder hektisch. Körper versperren den Flur. Es ist kurz vor Vortragsbeginn. Normalerweise strömen die Menschen in den Raum, nicht aus ihm heraus.

bodhisattva-geluebdeIch frage, was los ist, und erfahre: Vor der Eingangstür, innen im Vortragsraum ist plötzlich ein Mann zusammen gebrochen. Einer, der es gesehen hat, meint: „Es sah aus wie ein epileptischer Anfall, er hat sich verkrampft.“ Entsetzen spricht aus seinem Blick und Fassungslosigkeit. Fast alle haben den Meditationsraum verlassen. Die Tür ist geschlossen. Nur wenige Helfende, darunter auch seine Partnerin, sind bei ihm. Er liegt auf den weichen roten Matten unmittelbar hinter der Eingangstür unter der roten Fahne mit dem Bodhisattva-Gelübde. Der Notarzt ist schon unterwegs.

Ich gehe direkt zur Eingangstür, hinter der der Mann liegt, der um sein Leben kämpft. Der Abt gesellt sich dazu ebenso wie ein Freund, der selbst ehrenamtlicher Helfer in einem Hospiz ist. Wir sind still und beten. Ich rezitiere ein Mantra, visualisiere dessen Bedeutung und bin ganz und gar dabei, allen hinter der Wand Licht und Mitgefühl zu schicken. Im Ohr habe ich eine weibliche Stimme, die durch die dünne Wand dringt und wiederholt bestimmt und laut sagt: „Atme, atme!“ Die Wand zwischen uns ist hauchdünn; eine Wand, die Welten trennt, die der erwartungsschwangeren, meist buddhistisch orientierten, meditationserprobten Vortragsbesucher und die, des Mannes, der um sein Leben kämpft und derer, die unmittelbar bei ihm sind. Beides – Leben und Tod – liegen unmittelbar nebeneinander. Wir stehen ohne Schuhe im schmalen Gang. Einige haben sich entschieden im Atriumhof zu sitzen oder zu stehen, also draußen.

Hinter mir, direkt an die Wand gelehnt, unterhält sich lautstark ein junges Paar über private Dinge; auch im Flur werden Gespräche geführt. Manche begreifen nicht den Ernst der Lage oder sind im Schock. Erst als die Zentrumsleiterin deutlich macht, wie wichtig es ist, dass alle sich mitfühlend auf den vom Tode bedrohten fokussieren, für ihn beten oder meditieren sollten, wird es still. Der Schock, der über Reden kompensiert worden ist, mündet in Einsicht, das sich Einlassen auf die schwierige Situation. Inmitten des großen Friedens, den dieser Ort ausstrahlt, kämpft eine Mann um sein Leben. Das Ganze geschieht plötzlich von einer Sekunde auf die andere. Wie zerbrechlich das Leben doch ist.

stux-pixabay-tara-163076_1920Eine Frau stimmt das Tara-Mantra an. Wir singen es gemeinsam lange, sehr lange. Es ist das Mantra der grünen Tara, einer Göttin, die im tibetischen Buddhismus eine wichtige Rolle spielt. Ihr Name wird auch mit Retterin, oder Stern übersetzt. Sie ist eine von 21 Taras und gilt als freie Frau. Sie hat gelobt, sofort zu kommen, wenn sie gerufen wird. Tara sitzt auf einem Lotosthron, das rechte Bein ist angewinkelt. Das signalisiert, sie ist bereit, sofort aufzuspringen und zu denen zu eilen, die sie um Hilfe bitten. Eine Legende sagt, die grüne Tara sei aus einer Träne des Buddhas des Mitgefühls Avalokiteshvara geboren worden, die er wegen des großen Leidens auf der Welt vergossen habe. Tara ist geschaffen, um das Leiden in der Welt aufzulösen. Es heißt, wer ihr Mantra mit einer Visualisierung von Tara verbindet, potenziert die Kraft von Mitgefühl und Liebe, die sich über räumliche und zeitliche Grenzen hinaus ausdehnen kann. Ihr Mantra, das wir gemeinsam gesungen haben, lautet: OM TARE TUTARE TURE SOHA.

Ein Klangteppich, sanft und kraftvoll erfüllt den Gang und dringt nach draußen. Die Energien der Menschen verbinden sich. Es tut so gut, sich gemeinsam zu fokussieren, miteinander zu singen. Die heilenden Klänge schwingen auf meiner Haut und dringen über die Poren sanft in mich hinein. Mein Herz wird warm und weich. Ich wünsche mir sehnlichst, dass er überleben möge, dass er geschützt ist und vertrauen kann. Der Klangteppich schafft heilsame Energien, die zu dem Mann, um dessen Leben gekämpft wird, hinfließen…

Die Rettungskräfte kommen, während wir alle singen. Die Stimmung ist ungemein ruhig, sanft und konzentriert. Etwa 15 Minuten sind vergangen. Die Helfer gehen vom Innenhof aus in den Raum. Sie beginnen sofort mit der Wiederbelebung, handeln blitzschnell und wohl überlegt. Sie haben einen Monitor dabei. Bald hören wir an der Tür das Piepsen des Gerätes im Atemrhythmus. Ich bin so froh: Er lebt! Er lebt und atmet. Es wird wieder still hinter der Tür, dann piepst es erneut, danach kein Piepser, Aussetzer. Der Atem ist unregelmäßig. Er kann in jeder Sekunde sterben. Wir singen weiter das Mantra. Das gibt Kraft. Wie gut das tut. Dann kommt wieder der Piepton, wird regelmäßiger und bleibt, wenn auch schwach.

Ich spüre den abrupten Wechsel von Hoffnung und Furcht: Er schafft es, nein er schafft es nicht. Wie schwer muss es sein für seine Frau und alle, die bei ihm sind, auch für den mit dem Tode Ringenden. Mir gegenüber ist der Abt in tiefe Meditation versunken. Er strahlt Mitgefühl aus, wirkt gelassen und ruht in sich. Es geht eine wohltuende, heilende Kraft von ihm aus. Wir fügen alle, wie wir hier im Flur stehen und auch draußen, uns zusammen zu einem Energiefeld, das sehr kraftvoll ist. Es trägt alle.

So vergeht die Zeit, bis der Kranke auf eine Trage gelegt und von den Feuerwehrmännern nach draußen transportiert wird. Es sind viele professionelle Helfer um ihn herum. Er hat es geschafft! Wie gut, dass die Rettungskräfte so schnell da waren, so präzise gehandelt haben. Sie sind sichtlich beeindruckt von der Atmosphäre, drinnen und draußen. Sie ist sehr besonders. Mein Freund sagt: „Wenn er jetzt gestorben wäre, hätte er eine gute Begleitung gehabt. Alle haben für ihn gebetet. Ich kann verstehen, wenn man in dieser Situation vielleicht lieber gehen will als bleiben.“

Ich habe den Eindruck, es sind fast alle Vortraginteressierten geblieben. Nachdem die Rettungskräfte gegangen sind, räumen wir zusammen den Raum auf. Als alles wieder in Ordnung ist, leitet der Abt einfühlsam ein Gespräch über die Zerbrechlichkeit des Lebens und geht auf die Situation ein. Wie schnell sich die Energie an einem Platz doch ändern kann. Wir meditieren für den Mann, der den Infarkt erlitten hat.

Es war ein schwerer Herzinfarkt. Er ist an diesem Abend noch nicht aus der Gefahrenzone. Wir halten die spirituelle Verbindung mit dem Kranken und seinen Begleitern aufrecht. Am nächsten Tagen erfahre ich, dass der Mann mit dem Herzinfarkt ins künstliche Koma versetzt wurde. Er lebt und alle hoffen, dass es keine Folgeschäden gibt. Wir denken an diesem Tag, während der Abt unser Seminar leitet, immer wieder an ihn. Wir schließen ihn ein in unsere Meditationen. Er und seine Angehörigen sind nicht allein. Wir schicken ihnen unsere Gebete und guten Wünsche, vertrauen in ihre Wirksamkeit.

Mir kommen die Worte aus einem buddhistischen Praxistext in den Sinn: „Das Leben ist wie eine Seifenblase.“ Es ist so zerbrechlich und doch halten wir es für selbstverständlich. Der Tod hat an diesem Abend nicht gesiegt. Wir sind alle froh darüber. Er ist ein – getreten in den Ort, an dem wir zusammen waren, und wieder hinaus gegangen. Auf seinem Weg hat er jedem von uns eine Lektion erteilt. „Wann immer der Tod eintritt, kommt er, um uns an die Vergänglichkeit zu erinnern, und er verdeutlicht die Kostbarkeit des Lebens.“


Das Zitat „Wann immer der Tod eintritt, kommt er, um uns an die Vergänglichkeit zu erinnern, und er verdeutlicht die Kostbarkeit des Lebens.“ stammt aus dem Buch „Im Spiegel des Todes“ von Sogyal Rinpoche, Rigpa 1991, S.7.

Das Tara-Mantra bedeutet:

Vor der vollkommen erleuchteten Tara,
die vor allen Ängsten schützt, die segensreiches strahlendes Glück ist,
die den Weg in die Erleuchtung weist, verneige ich mich.
Löse alle Hindernisse in Leerheit auf. Beschütze mich mit deinem großen Mitgefühl.
Spende mir deinen Segen.

Man sagt, das Mantra schütze vor acht Gefahren: dem Löwen des Stolzes, dem Elefanten der Unwissenheit, dem Feuer des Zorns, der Schlange der Eifersucht, dem Räuber der falschen Ansichten, der Fessel des Geizes, der Flut der Begierde, dem Dämon des Zweifels.

Aus: Lisa Freund, Anna Trökes, Die Mantra Box mit Karten, Booklet und Audiotape, Karte 43, München 2013, Graefe Unzer Verlag, ISBN 9783833829109

http://www.gu.de/buecher/bewusst-gesund-leben/ganzheitlich-leben/560931-die-mantrabox-(box-mit-karten–booklet-und-audio-cd)/
Das folgende Video zeigt das Tara Mantra in der Version, wie wir es gesungen haben. Es enthält einzelne Elemente der Visualisierung des Mantras und betont dessen universelle Bedeutung.

Jeder dritte deutsche Friedhof in kirchlicher Hand

Das folgende Video enthält eine Version des Tara Mantras der Grünen Tara, gesungen von Ani Choying Dolma, einer tibetisch buddhistischen Nonne.

Jeder dritte deutsche Friedhof in kirchlicher Hand

 

Lisa Freund
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Eine Antwort

  1. gertrud gai-hofbaur sagt:

    Hallo Lisa,
    ich habe das Mantra OM TARE TUTARE TURE SOHA vor zwei Jahren bei Dinah Aroasa Marker bei der Klangheilerausbildung gelernt und singe es heute noch. Erst heute morgen habe ich es bei einer privaten Heilmeditation zusammen mit AUM gesungen. Freue mich, dass ich die Worte zum Mantra bei Dir gefunden habe. Gefühlt habe ich diese schon.

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