Ich wandle mich fast unbemerkt zum Schmetterling

Sarahs Erfahrungen kurz vor ihrem Tod

Eine junge Frau, die an einer Krebserkrankung starb, noch bevor sie 30 Jahre alt wurde, war verblüfft darüber, dass ihre Vorstellung vom Tod ganz anders sind als das, was sie gerade erlebt.

Sarah war davon überzeugt, der Tod überfällt Menschen als plötzliches Ereignis, hat mit dem wirklichen Leben nichts zu tun. Das Leben endet jäh – eben wie in einem Krimi. Während ihrer Krankheit erlebt sie: Sterben heißt loslassen. Es ist der Weg zum Tod, der Wandlung ist, die schon vorher beginnt. Loslassen geht langsam, ist mühselig. Es sind kleine Schritte mit großer Tragweite. Loslassen umfasst alles: körperliche Erfahrungen, Denken, Handeln, das ganze Sein, immer wieder Abschiede: von der Gesundheit, lieben Menschen, Konzepten und Gewohnheiten ….  Jede kleine Wandlung erschüttert und ergreift die ganze Sarah, nicht nur den Körper, die Seele oder die Gedanken … peu a peu. Am schlimmsten empfindet sie ihre Seelenschmerzen, wenn die Hoffnung auf ein normales Leben mit einer schönen Zukunft sich als Illusion entpuppt, zerfällt. Dann tut sich ein Abgrund auf. Angst. Das ist jedes Mal ein Stich ins Herz. Sie hat einen Weg entdeckt, wie sie ins Wohlbefinden kommen kann – ohne den Absturz.

Foto: Gabriela Neumeier / pixelio.de

Bunt sind meine inneren Bilder

Sarah erklärt mir das an einem Beispiel:„Ich sehe nicht mehr richtig. Die Konturen der äußeren Welt verschwimmen mit den Farben. Die Brille nützt nichts. Eine Augenoperation geht nicht mehr. Ich bin ‚austherapiert‘. Lebendig und bunt sind meine inneren Bilder. Ich habe eine innere Welt. Darin wohnen meine Persönlichkeit und das Himmelreich meiner Phantasie. Großartig ist: Das Sehen hört nicht auf, wenn die Augen nicht mehr funktionieren. Ich sehe mit meinem inneren Auge, dem Herzen. Mein Körper zwingt mich zu einem Wechsel der Blickrichtung. Das ist eine schmerzliche und eine tiefgreifende Erfahrung, die auch beglückt. Um das wirklich zu begreifen, brauche ich Zeit … . Das Annehmen des Wandels vom äußeren zum inneren Sehen geht langsamer als der Sehverlust meiner Augen. Ich hinke immer hinterher. Verstehst du das? Es ist so: Der Körper sagt, wo es lang geht. Die Seele weiß, wie sie sich anpassen kann. Doch erst wenn mein Denken zum Begreifen wird, lerne ich die neue Fähigkeiten vom innern Sehen zu entwickeln. Erst jetzt werde ich ruhig, empfinde Freude, in der mein Herz tanzt … wertvolle Augenblicke. Ich bin im Einklang mit mir und der Welt. Aber vorher und nachher leide ich unter meinen Verstimmungen, meiner Unzufriedenheit … weine, klage, schimpfe ich, bin ich verzweifelt. Wie es ist: das Wohlgefühl, wenn der Frieden da ist?  Es ist nichts Spektakuläres. Beim Annehmen von dem, was ist in meinem Herzen, verändert sich meine Wahrnehmung von mir und der Welt. Ich hadere nicht mehr. Kein Gefühl von Mangel, auch nicht von Überfluss. Alles ist gut so, wie es ist. Es gibt nichts zu tun. Ich entspanne mich ins Leben hinein, bin hellwach, hab ein weiches, warmes Herz.

Ich liege hier im Pflegebett, krank, auf Hilfe angewiesen. Es sieht so aus, als wäre nichts mehr los mit mir. Glaub mir, es ist aufregend, was in mir passiert. Weißt du, was ich meine? Es wird nicht langweilig. Es ist manchmal harte Arbeit mit mir, meinem Selbstbild, den Gefühlen … Wachsen, reifen … wohin? Ich freue mich dran, dass ich keine Schmerzen habe, klar denken, mit dir reden kann. Wenn wieder etwas nicht mehr geht, seit heute kann ich mich nicht mehr alleine aufrichten oder aufsetzen, dann werde ich ungehalten, aggressiv, muss weinen vor Verzweiflung. Doch wenn ich durch die Widerstände durch bin, fühle ich mich innerlich erneuert, reich und rund. Ich kann das Problem lösen, um Hilfe bitten und meine Aufmerksamkeit jetzt auf unser Gespräch richten. Es gibt immer etwas, das noch gut ist und geht. Warum soll ich mich festbeißen und klammen an das, was nicht mehr geht? Dann merke ich gar nicht mehr, das ich mich auch freuen darf.

Die kleinen Abschiede sind immer neu, immer anders. Der Prozess hört nicht auf, ist wie ein Kaleidoskop, in dem sich meine Schwächen und Stärken zu immer neuen frei floatenden Mosaiken entfalten. Flow. Das ist Leben. Heute glaube ich, das geht nach dem Tod weiter.“

Abschiednehmen ist wertvoll

„Die Metastasen sind überall in mir.  Ich hab das Gefühl: Sie fressen mich auf. Ja, der Krebs breitet sich in mir aus wie ein Monster … bis nichts mehr übrig bleibt. Das gilt auch für meine Beweglichkeit, nicht nur fürs Sehen. Das Aufstehen, der Gang ins Bad, die zwei Treppen runter in den Garten, all das wurde immer schwerer. Vor drei Wochen konnte ich noch zur Toilette gehen –  ohne Hilfe. Bis vor 10 Tagen ging das, wenn mich jemand gestützt hat. Dann kam der Gehwagen …  und heute? Ich komme nicht mehr alleine aus dem Bett, brauche Hilfe beim Aufrichten. Laufen? Die Beine wollen nicht mitmachen. Wenn ich es versuche, tut sich nichts. Der Kopf will, das Gehirn sendet den Impuls: Steh auf! Die Muskeln machen nicht mit. Es ist so was wie eine Locked-In-Erfahrung, das Gefangensein im Körper. Kennst du diese Erfahrung? Ich will, aber ich kann nicht. Ich mache sie grad ganz körperlich und das macht was mit meiner Seele.

Sarah ist froh, dass sie Zeit hat, vom Leben Abschied zu nehmen. Sie erlebt ihre Krankheit  als langsames aus dieser dinglichen Welt Gehen. Der Körper führt sie auf verschlungenen Pfaden ins Herz ihrer Seele. Jede neue Ankunft in diesem glücklichen Raum empfindet sie als Geschenk. „Ich wachse in die Tiefe, immer wieder ein Stück mehr und gewinne Vertrauen. Währenddessen schwindet meine Angst, jedenfalls ein bisschen… Meine Therapeutin nennt das den Prozess des Abschiednehmens. Das klingt bombastisch! Es ist ein nachhaltiger Weg der kleinen Schritte… Ich wandle mich innerlich fast unbemerkt zum Schmetterling. Ihr seht das erst, wenn ich tot bin oder gar nicht.“

Schluss mit dem Kopftheater

„Ich saß gestern zum ersten Mal im Rollstuhl. Es war eine Erleichterung. Zugleich habe ich mich geschämt. Wenn mich die Nachbarn so sehen? Es ist mir noch peinlich, so hilflos und schwach daher zu kommen. Doch der Wind, die Sonne, das Herbstlaub, die Kinder …  Es war gar nicht wie mein Kopftheater mir das vorgespielt hat. Die Unsicherheit war schnell weg und ich hab mich gefreut an der Natur, dem Leben. Annehmen, was ist? Ich bin oft weit davon entfernt. Die Krankheit ist schneller, als ich denken kann. Jeder Tag, setzt eine neue Erfahrung drauf, die weh tut. Es fällt immer etwas anderes aus.

Es gibt auch die glücklichen Momente, in denen ich so bin, wie ich bin, mich erfreue an all dem Schönen in mir und um mich herum. Wenn ich kann, richte ich den Blick auf das Gute, Schöne. Dann fühle ich mich auch gut. Die Abstürze kommen immer wieder. Doch ich weiß, wie ich rauskomme. Der Weg geht über den Wechsel der Blickrichtung, die Veränderung der Einstellung zur Situation. Das geht, weil alles immer viele Seiten hat, nicht nur eine … ein Kaleidoskop, ein Mosaik, ein himmlisches Gewebe. Das ist das Leben: Fülle, nicht Mangel.“

Sarah schaut nachdenklich auf den Ahornbaum, der keine Blätter mehr hat. „Loslassen? Ich renne hinter der Entwicklung her, die in meinem Körper passiert und komme oft erst viel später an. Dann gibt es wieder was Neues. Ich komme mit dem Annehmen nicht hinterher. Wenn der Tod kommt, kriege ich das womöglich gar nicht mit, weil ich noch ganz woanders bin… innerlich.

Täglich sterbe ich ein kleines bisschen. Ich will das nicht. Es ist so. Aber zugleich lebe ich und atme. Das Leben ist kraftvoller und beständiger als der Tod. Ich meine das innere, das geistige. mich drauf zu besinnen: Das ist wie ein Training: Leiste keinen Widerstand! Nimm alles an! Freue dich an dem, was geht…  Hätte ich das im Leben mehr geübt, statt zu tun, was andere von mir wollen … Vielleicht wäre ich gelassener. Sag den Menschen draußen: Freude gibt es bis zuletzt. Wecke Sie in dir und fließe mit.“

(Sarah, zwei Wochen vor ihrem Tod. Sie starb mit 29 Jahren)

Lisa Freund
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