… vielleicht scheint gerade die Sonne

Über das Loslassen

Loslassen geschieht in einem Rahmen, der bestimmt wird von Zeit und Raum. Es sind verschiedene Menschen in diesen Prozess involviert. Sie beeinflussen an dem Punkt, an dem sie stehen, das Geschehen. Es entsteht eine komplexe Interaktion. Eine Vielfalt von Faktoren trägt dazu bei, dass für die jeweilige Person typische Umstände entstehen, von denen sie lernen kann. Es sind Umstände, die Prüfungen enthalten sowie Chancen zum Wachstum. Sven, lebensbedrohlich erkrankt, sagt, wie er mit den Herausforderungen am Lebensende umgeht.

Menschen, die Verständnis haben, liebevoll sind, die sich in Sven einfühlen können, das ist es, was ihm am meisten geholfen hat. Er mochte nicht die Coolen, aber auch nicht die, die sich für ihn selbst aufgeben wollten. „Irgendwo dazwischen können wir uns begegnen!“ sagt Sven.

Sonnenunterang über LandschaftWenn es beim Loslassen um etwas so Großes geht wie das Leben in dieser Welt, erfahren wir die damit verbundenen Veränderungen als Herausforderungen, manchmal als Drama. Ich frage Sven, warum das so ist. Er antwortet: Ich leiste Widerstand, lehne mich auf, anstatt anzunehmen, was ist. Die Widerstände können sich auftürmen zu schier unüberwindlichen Gebirgen. Woraus bestehen sie? Sie haben keine Substanz und sind trotzdem so mächtig. Es sind meine Erwartungen an mich und andere. Vorstellungen, wie es ein soll, die ich im Kopf habe und sonst nirgendwo. Alles beruht auch auf Gewohnheiten. Wenn ich Widerstand leiste, bringe ich diese Gewohnheiten in die Welt. Ich gebäre all das Unheil immer wieder aufs Neue, weil ich meine Erwartungen, Konzepte, Wertungen nicht aufgeben will, während eigentlich das Annehmen von dem, was ist, ansteht. So bin ich angespannt und weit vom inneren Frieden entfernt. Die gute Nachricht ist, ich kann das ändern.“

Oft wollen wir mit dem Kopf durch die Wand. Erwartungen sind auf die Zukunft gerichtet Sie enthalten eine Vielfalt unserer Hoffnungen etwa, dass die geplante Reise uns glücklich machen, ein neues Projekt uns Segen bringen wird, die Gründung einer Familie, das Leben erst lebenswert macht … Manchmal sind die Erwartungen auch negativ: Ich werde nie den richtigen Partner finden! Während wir in Erwartungen schwelgen oder uns in negative Gedanken hinein steigern, entgeht uns das, was gerade ist, auch all das schöne, was gerade jetzt geschieht. Ich bin jetzt hier. Nur mein Kopf ist woanders. Er steckt fest in seinen Projektionen, einem ganz persönlichen Mikrokosmos – fern der Realität. Dabei scheint vielleicht gerade die Sonne…

Auf die Stimme der Seele lauschen

Eine schwere Erkrankung, ein Unfall können plötzlich dazu führen, dass wir Hoffnungen, Pläne aufgeben müssen. Nie wieder ohne Rollstuhl gehen können … Und was ist dann? Ist das Leben noch lebenswert unter diesen Umständen? Diese Fragen können Außenstehende nicht beantworten.

Wir können neben Beeinträchtigungen, körperlichen Schwächen auch schöne Dinge wahrnehmen. Wieso? Die Antwort ist einfach. Das Schöne ist auch immer da. Es ist die Kehrseite der Hässlichkeit. Voraussetzung ist, dass wir hinschauen: das was gerade ist und gut tut, wahrnehmen.

Sven lächelt über ein Eichhörnchen, das am Baum baumelt. Er kann nicht mehr gehen und sagt: „Ich freue mich über das kleine Wesen. Es inspiriert mich. So öffne ich der Freude in mir eine Tür. Es gibt ihn trotzdem noch, den Dämon in mir, der leiden will.“ Sven meint: „Es kommt darauf an, wohin ich meine Aufmerksamkeit richte, auf das Eichhörnchen oder darauf, dass ich im Rollstuhl sitze und nicht mehr laufen kann. Ich sitze im Rollstuhl. Das ist ein Fakt. Ich betrachte das Eichhörnchen. Das ist auch ein Fakt. Ich entscheide mich, d.h. ich wähle, worauf ich die Aufmerksamkeit richte. Es ist das Eichhörnchen. Ich freue mich an diesem possierlichen kleinen Fellknäuel, fühle mich gut und mit ihm verbunden. Mein Herz geht auf. Ich habe mich entschieden, gewählt, worauf ich mich einlassen will. Es ist die Freude am Leben. Ja, ich glaube, dass ist Lebenskunst: ars vivendi.“

Blicke auf das Wohltuende

Es ist eigentlich ganz einfach: Hat Sven den Fokus auf seiner körperlichen Beeinträchtigung, geht es ihm schlecht. Sven fühlt sich kraftvoll mit dem Blick auf das Wohltuende, das auch da ist. Dabei lädt er seine Batterien auf.

Es kommt zu Werteverschiebungen, wenn wir unheilbar krank sind, die durch Studien belegt sind. Kranke Menschen empfinden Glück über kleine Dinge, die sie vorher nie wahrgenommen haben. Nicht nur das können wir von ihnen oder sterbenden Menschen fürs Leben lernen.

Pema Cödrön erklärt in ihrem Buch „Wenn alles zusammenbricht“ wie wir in Lebenskrisen lernen können, Gewohnheiten zu verändern und anzunehmen, was ist. Es ist ähnlich wie das Loslassen-Lernen, das der Tod von uns einfordert.

Sie beschreibt das etwa so: Der erste Schritt zum Loslassen ist der, wahrzunehmen, was ist. Wir kommen in der Gegenwart an. Als nächstes versuchen wir, das, was geschieht anzunehmen. Annehmen ist der große Schritt zur Heilung. Auf dem Weg hin zum Annehmen bewegen wir uns auf einem höchst emotionalen Terrain. Wir arbeiten uns durch die inneren Widerstände verbunden mit Angst und der ganzen Palette negativer Emotionen durch. Es hat was von einem Minenfeld. Wenn die Wogen sich glätten, wird es sanft und still. Wir betreten eine neutrale Zone – ohne Höhen und Tiefen, die nicht langweilig ist. Wir sind entspannt, ruhig, gelassen. Die Dinge, Erfahrungen, Wahrnehmungen, Gefühle, einfach alles kommt und geht. Wir identifizieren uns nicht mehr damit. Ein Bild für dieses Erleben ist der Himmel ohne Wolken. Wir werden zum Himmel, der hinter den Wolken liegt, strahlend, in sich ruhend, weit, frei und unberührt … .

So nähern wir uns einem besonderen Niemandsland, das ein buddhistischer Gelehrter, der in Tibet als zweiter Buddha anerkannt wurde, so formuliert:

 

„Im Niemandsland zwischen Dunkelheit und Helligkeit

gibt es ein (verstecktes) Tal, wo alles wächst, was ausgesät worden ist.

Dort hat sich eine Blume geöffnet, die jedem gefällt.

Ihre Frucht ist ein kostbarer Edelstein, vollkommen leuchtend in einem

Glanz ganz aus sich selbst.

Dieser (gewährt Erfüllung) jeglicher Wünsche, die man haben kann.“

 

Zitat aus: Padmasambhava, übersetzt von Herbert Günther in: Padmasambhava, Berlin 2011, S.

Lisa Freund
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