Begleitung am Lebensende

Weg und Prozess

Die Autorin beschreibt eindrucksvoll, dass die Begleitung von Menschen am Lebensende ein Prozess ist, der viel innere Bewegung und Wachstum auslöst, ein Prozess, der bei einigen Menschen dazu führt, mit dem Blick auf das eigene Lebensende bewusst zu leben und den Tod anzunehmen. Deutlich wird der Sinn von Biografiearbeit und auch wie BegleiterInnen an der inneren Reifung des Sterbenden teilnehmen können. Professionelle Begleitung –  ob haupt- oder ehrenamtlich -unterscheidet sich von der Fürsorge durch Familienangehörige. Ein Gedicht von Hilde Domin, zu dem es einen Link gibt, lädt dazu ein, den Umgang mit dem Sterben als lebendigen Unterricht zu sehen.

„Niemand ist fort, den man liebt.
Liebe ist ewige Gegenwart.“
Stefan Zweig

Der gemeinsame Weg in der Begleitung von Menschen am Lebensende ist für Begleitende Teil des eigenen Lebensweges, für den Abschied nehmenden Menschen Lebensabschnitt und eine ungewisse Reise sowie unbekanntes Land.

In Sterbebegleitungen habe ich selbst staunend miterleben dürfen, wie schwerstkranke Menschen für sich etwas klären, was ihnen wichtig ist, oder sie sich auf neue, herausfordernde Lebenssituationen an ihrem Lebensende einlassen. Die einzelnen Wege der Menschen waren dabei von einem innerlichen Prozess begleitet, auf dem Zurückgezogenheit und stille Momente ihren Raum und ihre Zeit fanden. Für mich persönlich waren dabei Vertrauen, Aushalten gemeinsamen Schweigens und einfach Da-Sein tiefgreifende Momente wahrer Begegnungen. Achtsamkeit, mich auf Wahrnehmungen und Beobachtungen im Moment zu fokussieren, ohne diese zu beurteilen, eigene Gefühle, eigenes Berührt-Sein zu reflektieren, schaffen in mir einen Raum, erfüllt mit tiefstem Respekt vor meinem Gegenüber.

Sterbebegleitung heißt nach Monika Renz[1]Renz M., Hinübergehen, Kreuz Verlag, 3. Ausgabe: 2012, S. 121.: Unterstützung im Prozess, heißt – den inneren Vorgaben folgend – jemand konsequent sterben zu lassen. Im Wissen um Gesetzmäßigkeiten von Übergang und sich wandelnder Wahrnehmung dürfen wir Hinübergehende nicht durch ich-bezogene Angebote einladen zu verweilen, denn eigentlich möchten sie gehen. Innerliche Widersprüchlichkeit darf nicht mit gut gemeinten Interventionen oder mit einem zu viel an Interdisziplinarität gefördert werden.
Nach M. Renz, Leiterin der Psychoonkologie am Kantonspital St. Gallen sollten den Sterbenden eher die Konsequenzen des Verweilens im Ichhaften aufgezeigt werden. Was ehrliche Konfrontation bewirkt, lässt sich für Monika Renz aus Beobachtungen auf ihrer Palliativstation ableiten. Manchmal müssen sie den Sterbenden, die bei ihnen in ihrem behüteten Rahmen „nochmals aufleben“ irgendwann eröffnen, dass sie unter dem Druck der Krankenkassen zu einer Anmeldung in einem Pflegeheim oder einer anderen Einrichtung genötigt seien. Zunächst enttäuscht und völlig deprimiert, sind die schwerst erkrankten Menschen dann wieder in Kontakt mit ihrem ursprünglichen Bedürfnis, sterben zu wollen und los lassen. In der Folge können die meisten von ihnen noch vor der Verlegung in eine andere Institution sterben.

„Richtiges (?) Handeln“

Sterben heute fordert auf, Entscheidungen zu treffen. Sich selbst bestimmen,  erfordert Selbstverantwortung und braucht solidarisches Miteinander.

Eine 76jährige schwersterkrankte Frau will nach einem für sie belastenden Krankenhausaufenthalt mit anschließendem Aufenthalt in einem Pflegeheim nach Hause. Sie will heim, in vertrauter Umgebung sterben dürfen und nochmals den Duft ihrer Rosen im Garten wahrnehmen. Im Pflegeheim fiel die Frau aufgrund ihres widerständigen Verhaltens auf. Der zuständige Arzt veranlasste die Untersuchung durch eine Psychiaterin, um prüfen zu lassen, ob eine Einweisung in die Psychiatrie erforderlich sei. Die Unterstützung durch ein tragfähiges soziales Netzwerk sowie eine ambulante palliativmedizinisch- und pflegerische Versorgung ermöglichten ihr die Rückkehr in ihr vertrautes zu Hause. Innerhalb weniger Tage konnte sie los-lassen und sterben.
„Die Achtsamkeit für das Periphere muss durch das nachvollziehende Verstehen von Wandlungsprozessen und deren Drängen in Richtung eines Zieles ergänzt werden“: Es geht um die Themen: loslassen und sterben zu können.[2]Ebenda, S. 124

Jedoch ist Sterben ein Mysterium, ein Geheimnis, das wir als Begleitende nie ganz be-greifen werden, ebenso wenig wie wir den Menschen, in seinen Wandlungsprozessen ganz erfassen können.

Sterben ist der zutiefst persönlichste Weg im Leben, der wie jeder Mensch, einmalig ist.

Biografiearbeit

Jedes Leben ist einmalig mit Höhen und Tiefen, Schicksalsschlägen und Erfolgen, bewältigten Krisen, Ängsten, Ent-Täuschungen und Schuld. Am Ende des Lebens haben viele Menschen das drängende Bedürfnis, eine Bilanz ihres Lebens zu ziehen. Sie verspüren den Wunsch, ihrem vergangenen Leben einen Sinn zu geben. Wir hingegen sehen darin noch eine derzeitige Lebensaufgabe.

Im Prozess der Biografiearbeit wird eigenes Leben erinnert, wieder verlebendigt. Für die Erzählenden ist ihre Lebensgeschichte zunächst so wahr, wie sie ihre Lebensgeschichte wiedergeben. Für manche fühlt sie sich schrecklich und mühevoll an, für andere selbstbestimmt und erfüllt. Schweres mag vergessen oder verdrängt sein. Biografiearbeit lädt ein, genau zu erinnern und zu erspüren, Lebenssituationen und das So-geworden Sein unter neuen Aspekten zu beleuchten, Vergangenes abzurunden, unerledigte Aufgaben zu ordnen und zu sortieren, zur Versöhnung mit Menschen oder gar der Welt. Biografiearbeit eröffnet die Möglichkeit zu trauern, sich vielleicht auch zu versöhnen und manches neu zu ordnen. In der Begleitung von Menschen am Lebensende helfen wir ihnen zu erkennen, wie sehr ihr persönliches Leben, ihre Haltungen und Werte, Religion, Kultur und Zeitepoche sie beeinflussen und prägen.

Ich erinnere mich an eine 66-jährige Frau. Sie bereute, nie Abitur gemacht oder studiert zu haben. Ihr Leben wäre, hätte sie das Abitur erworben, in ihrer Vorstellung für sie besser verlaufen, mit mehr Geld, einem abbezahlten Eigenheim, weniger harter Arbeit und mehr Freude in ihrer Ehe. In der Biografiearbeit gelang es ihr, innerlich erlebte Konflikte und Schuldgefühle zu betrachten. All die Jahre hatte sie ihre Eltern dafür verantwortlich gemacht, dass sie kein Abitur gemacht hat, nicht ausreichend gefördert wurde. Gefühle von Zorn und Verbitterung kamen in ihr hoch. Ihre Lebensgeschichte, an der sie mich teilhaben ließ, zum Beispiel daran, wie sie ihre Eltern, ihre Ehe, ihre Arbeit bis zur Rente, wahrgenommen und gefühlt hatte, half mir, sie zu verstehen und mich in ihr persönliches Erleben einzufühlen.

Das differenzierte Hinschauen auf die Zeitepoche, in der ihre Eltern lebten, auf das, was ihre Eltern prägte und politische Rahmenbedingungen während ihrer eigenen Schulzeit, ermöglichten ihr, neue Blickwinkel auf ihr eigenes Leben in Augenschein zu nehmen. Ein milderer Blick auf ihre Eltern, ihr eigenes Leben und schließlich auf ihre eigene Person wurde für sie möglich. Gutes und Gelungenes und auch wie sie die Schwierigkeiten ihres Lebens gemeistert hatte, konnte sie in den letzten Wochen ihres Lebens noch neu-erleben und würdigen.

In einem Gedicht von Hilde Domin mit dem Titel „Unterricht“ erhält der Tod, unser Ausgang des Lebens, die Bedeutung eines „Unbekannten Faches“, in dem die Sterbenden die Lehrer und die Weiterlebenden die Schüler sind. Es ist ein „kostbarer Unterricht“ für BegleiterInnen, wenn ein Mensch auf sein Leben zurückblickt, eine eigene Bilanz zieht, an der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits. Eine Erfahrung, Einblicke in die eigene Entwicklung, zuteil gewordenes Wissen, ein innerer Reifungsprozess werden angeregt. „Jeder, der geht, belehrt uns ein wenig“, lädt ein, eigene Reifung und Tiefe an- und wahrzunehmen und unser eigenes Weiter-Leben zu gestalten.
„Dein Tod und meiner der nächste Unterricht“ –  das Un-begreifliche im Hinübergehen. Im Hinübergehen, im Aus der Welt gehen, erfährt der Sterbende selbst Unterricht in einem unbekannten Fach. Es geht um die Annahme und Akzeptanz des eigenen Todes. „Unterricht“, eine Einladung, die Auseinandersetzung mit Leben, Sterben und Tod in unser eigenes Leben zu integrieren, inneres Wachstum und Reifung zu erfahren.

Sorge um den Anderen

Sorge um Andere in Begleitungen am Lebensende braucht sowohl die Liebe zum Menschen als auch die Distanz zu ihm.
Sorge um Angehörige wurzelt in familiären und emotionalen Bindungen, die zum Charakter der jeweiligen Sorge-Haltung beitragen. Sterbebegleitung von Haupt- oder ehrenamtlich Tätigen ist demgegenüber „professioneller“ Natur. Dies gilt auch für die Biografiearbeit.

Was sind die Wesenszüge hospizlicher Haltung in der Sorge um den anderen? Gerda Graf[3]Graf G., Jeder Moment ist Leben. Sorge um die helfenden Menschen. In Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen. 10/2017 (73): 14-17 nennt drei Kennzeichen einer hospizlichen Haltung: Die Liebe zum Menschen, den Willen zu lebenslangem Lernen und die kritische Selbstreflexion.
Annahme des Anderen im So-Sein beinhaltet dabei auch die Annahme meiner selbst. Die Reflexion eigenen Handelns und der Blick nach innen lassen die Persönlichkeit wachsen, eröffnen neue Sichtweisen. Wir reifen beim Nachdenken. Die Sorge um Andere wird dabei zum Spiegelbild meiner Selbst-Fürsorge.

Biografiearbeit nicht nur am Lebensende macht uns unsere eigene Sterblichkeit bewusst, lässt uns achtsam werden für Sinn und Wert unseres eigenen Handelns. Im Erkennen, wie stark uns unsere Lebensmuster beeinflussen, haben wir die Chance, uns innerlich von ihnen zu verabschieden und selbst-bewusst unser eigenes Leben zu gestalten.

Das Leben wird Gegenstand einer Auseinandersetzung während der respektvollen Betrachtung der eigenen Biographie. Das ermöglicht inneres Wachstum durch hinzugewonnene Erkenntnisse und Erfahrungen bei der Suche nach Wahrheit.

Begleitung am Lebensende… Leben lernen

Begleitung am Lebensende ist sowohl eine gesellschaftliche als auch eine ureigene Aufgabe. Sie ermöglicht, aus bereits gelebtem und derzeitigem Leben Bedeutsames für die Gesellschaft sowie über meine Mitmenschen herauszufinden, mich selbst zu erkennen und Einsichten gestalterisch umzusetzen.

Auch wenn Werte und Vorstellungen immer wieder neu entdeckt werden und im Sterben nicht einfach linear zur Anwendung kommen können, bleiben wir in der Auseinandersetzung damit Leben Lernende.

Die Vorstellungen und Werte gesunder Menschen werden höchstwahrscheinlich nicht mehr die des Schwerstkranken sein. Sterben ist eine schwierige Aufgabe, eine Krise, die die ganze Existenz betrifft, eine Krise die die Existenz sicher geglaubter Werte und eigener Vorstellungen umfasst.

„Es ist vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegensenden,
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.
Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde.“
Hermann Hesse


 

Literaturhinweise

Das Gedicht „Unterricht“  von Hilde Domin finden Sie hier:

http://www.hospizgruppeschopfheim.de/hospiz-schopfheim-texte1-domin.pdf

Dr. Elisabeth Kohrt
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