Stärker als alles andere ist der Himmel in mir
Biografiearbeit am Lebensende
Der Blick zurück auf das eigene Leben hilft, den Augenblick des Abschieds aus diesem Leben und die damit verbundenen Sorgen zu bewältigen. Unsere Autorin Lisa Freund, die intensive Erfahrungen als Sterbebegleiterin gesammelt hat, schildert im folgenden Text ihre Erlebnisse mit Elke und den gemeinsamen Blick auf deren Leben.
Wie ist ein Mensch zu dem geworden, was er ist? Was hat ihn geprägt? Wie ist er durchs Leben gewandert? Geschichten, die das Leben schreibt: Das ist es, was mich an Biografien interessiert. Ich gehe mit dem, was ich von einem anderen Menschen erfahre in Resonanz und erkenne mich selbst. Wir berühren unsere Herzen, denken miteinander nach und lernen voneinander, auch über keimen, wachsen, blühen und welken im Leben.
Ich besuche eine junge Frau, die mich darum gebeten hat, in ihrer Wohnung. Elke denkt über ihr Leben nach – zum ersten Mal so richtig. Sie ist schon 32, noch nicht mal im Midlife sondern immer noch gefühlt in den Roaring Twenties. Ausgerechnet jetzt, als für sie das Leben so richtig anfängt, wird ihr mittgeteilt: „Sie haben einen Lungentumor. Der hat schon gestreut, bis in die Knochen hinein.“ Elke: „Ich hab nicht aufgepasst, auch mal Blut gespuckt und nachts hat die Lunge geröchelt… Ich hab gedacht, das geht wieder weg, wie ein Schnupfen oder was anderes, was ich mal hatte.“ Jetzt pausiert sie vom Job, jagt durch die Chemos – alles ambulant. Es ist jetzt für Elke angesagt, über das Leben nachzudenken, weil es eben bald aufhört – wahrscheinlich, aber vielleicht auch nicht…
Elke hat eine kleine Wohnung, ein Zimmer in Berlin-Kreuzkölln, noch preisgünstig, im Kiez gelegen – bunt ist es hier, lebendig, schrill …! Es regnet … ein Novembertag. Keine Blätter mehr an den Bäumen, trüb, nasskalt, fieser geht es nicht. Elkes Terminkalender: Kaum noch Dates. Aber er ist voll von Behandlungsterminen: Chemo, Physiotherapie, Psychonkologe, Heilpraktikerin, Feldenkrais, Astrologin und mehr. Jetzt steh ich auch noch drin als Sterbebegleiterin, die den Fokus auf dem Thema hat: Der Tod ist das Ende von einem neuen Anfang. Man stirbt nicht wirklich. Elke will sich vorbereiten auf diesen Übergang ins Ungewisse.
Erst zur Ruhe kommen, dann nachdenken
„Was willst du von mir ?“ frage ich Elke. Die Antwort kommt prompt: „Denk mit mir über mein Leben nach. Sorg vorher dafür, dass ich zur Ruhe komme. Sonst geht das nicht. Ich schlage ihr vor, sich aufs Sofa zu legen mit geradem Rücken. Sie tut das gerne. Ich decke sie zu. Elke schließt die Augen. Ich sage: „Atme ein paar Mal tief ein und kräftig aus mit einem Ton, einem Seufzer, whatever.“ Das macht sie ausgiebig. „Jetzt schau, wie der Atem in dir fließt. Spüre das Einatmen und das Ausatmen!“ Es tut ihr gut. Elke entspannt sich peu a peu.
Nach einer Weile bitte ich Sie die Aufmerksamkeit auf ein inneres Bild zu richten. Es ist ein blauer Himmel hinter den Wolken. Die Wolken stehen für Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen. Sie sind in Bewegung. Das macht der Wind. Sie ziehen vorüber, geben immer wieder den Blick auf einen strahlenden Himmel frei, der unermesslich weit ist, makellos. Der Himmel ist immer da. Ich leite diese Visualisierung an. Wenn Elke sich in Gedanken, im Grübeln zu verlieren droht, bitte ich sie darum, den Himmel in sich zu spüren, sich von seiner Weite durchdringen zu lassen. Das gelingt ihr ab und an.
Das Leben aus der Vogelperspektive
Als Elke ruhig geworden ist, bitte ich sie, vom gegenwärtigen Moment aus auf ihr Leben zurückzublicken. „Stell dir vor, du bist ein Vogel!“ Elke wählt sich einen Phantasievogel aus, auf dem Sie reitet. Sie denkt an Avatar, einem bekannten Hollywoodfilm. Sie überfliegt zunächst das aktuelle Lebensjahr, dann die nächsten zehn. Elke reist auf diese Weise zurück bis in die Kindheit. Sie vergegenwärtigt sich währenddessen wichtige Lebensereignisse, geht bis an die Grenzen ihrer Erinnerung. Nach einer Weile ist es genug. Ich bitte Elke in einem schnellen Tempo ihr Leben von dem Punkt aus, an dem sie gerade angelangt ist, vorwärts zu überfliegen und wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Danach verweilt sie kurz in der Beobachtung ihres Atems. Sie räkelt sich sich, öffnet die Augen und ist wieder präsent.
Wir trinken eine Cola und schweigen. Als sie so weit ist, unterhalten wir uns. „Wie lange war ich unterwegs?“ fragt Elke. Ich sage: “So etwa 50 Minuten.“ Sie staunt, dachte es sei viel kürzer gewesen. Die Zeitwahrnehmung verändert sich in Phantasiereisen. Elke hat viel erlebt, erinnert Sie staunt über ihre Eindrücke. Einiges stimmt sie nachdenklich. Wir sprechen darüber. Später, als ich weg bin, holt sie ihr Tagebuch heraus, das ist im PC. Sie notiert einige Erfahrungen. Das nächste Mal, als ich bei ihr bin, sehe ich: Es sind über 20 Seiten geworden.
Das rote Samtband
In der folgenden Woche bringe ich eine weiße Tapetenrolle mit. Ich rolle sie im Zimmer auf dem Teppich aus. Ein rotes Samtband hab ich auch dabei, Stecknadeln und Kleber. Wir teilen die Tapetenrolle in der Mitte mit dem Samtband in zwei Hälften, und zwar senkrecht. Als das getan ist, bitte ich Elke, sich zu setzen, die Augen zu schließen und sich an den Flug über ihr Leben zu erinnern. Als sie wieder mit dem Rückblick auf ihr Leben verbunden ist, bitte ich Sie, das Samtband als einen Zeitstrahl zu sehen. Für ein Lebens-Jahrzehnt gibt es einen Strich darauf. Sie trägt in die eine Hälfte neben dem Band die Higlights ihres Lebens ein, dem jeweiligen Lebensjahrzehnt zugeordnet. Auf die andere Seite des Samtbands, also auf die andere Tapetenhälfte, notiert sie große Tiefs ihres Lebens: die Scheidung der Eltern, Trennungen von Lebenspartnern, die Tode der Großeltern, Krankheiten, ihre Krebsdiagnose und mehr. Wir suchen zusammen nach Gegenständen, Bildern, Symbolen, die Elke wichtigen Ereignissen in ihrem Leben beifügt. Jedes bedeutsame Lebensereignis erhält einen Namen, der auf die Tapete geschrieben wird. Wir kleben oder heften mit Stecknadeln dazu, was Elke auswählt wie das umhäkelte Taschentuch ihrer Großmutter oder das erste Ultraschallfoto ihrer Tochter, die in Elkes Bauch gestorben ist. Das ist ein kreativer Prozess. Ich überlasse es Elke, welche Themen sie ansprechen möchte. Wir unterhalten uns darüber, ich höre ihr zu, stelle ab und zu eine Frage, begleite sie in ihren Gedanken und Gefühlen, tröste sie, wenn sie das wünscht. Wir beschäftigen uns lange und intensiv mit ihrem Lebensrückblick. Es es eine produktive Zeit.
Kaleidoskop des Lebens
Als ich eine Woche später wieder komme, hat Elke die Tapetenrolle an eine Wand gehängt – mit allem, was drauf ist. Bei jedem Besuch entdecke ich Neues. Ich betrachte, was dazu gekommen ist, bin neugierig auf Elkes Kommentare. Elke greift sich Themen heraus, über die sie reden möchte, zunächst einige Highlights, glückliche Erfahrungen, später wagt sie sich heran an Ängste, Seelenschmerzen, Schuldgefühle, das schlechte Gewissen, Unerledigtes, das Eingemachte … Zusammen überlegen wir, wie sich Knoten lösen lassen und Vergebung geschehen kann. Elke schreibt Mails, Briefe, verschickt ein Tagebuch an einen Ex-Freund, lädt die Frau aus dem Kiosk vor dem Haus zu sich zum Bier ein. Sie führt Gespräche mit ihrer Mutter, Freunden, in denen sie noch etwas klären oder ins Reine bringen will. Einmal wünscht sie sich ein Ritual, in dem sie Ihre große Liebe frei gibt, den Mann, der sie über Nacht verlassen hat, als sie schwanger war. Sie hat abgetrieben – schweren Herzens. Elke, gibt ihrer verstorbenen Tochter einen Namen, verabschiedet sich von ihr und entlässt sie in ein anderes Leben. Das geschieht in einer von mir begleiteten rituellen Handlung. Alles in allem gibt es viel tränenreiche und noch mehr glückliche Erfahrungen. Ich bin in diesem gemeinsame Prozess oft sehr berührt.
Abschied
Es geht Elke körperlich immer schlechter. Sie entscheidet sich für den letzten Umzug in ein Hospiz. Elke hat viel inneren und äußeren Ballast abgeworfen. Der letzte Koffer steht neben dem Schrank. Die Utensilien darin: eher praktisch und so banal wie die Zahnbürste, Nachthemden, Slips, wenig Stimmungsvolles: zwei Fotos, ein Kuscheltier, drei CDs ein Lieblingsbuch… Das Leben geht zu Ende. Sie hadert mit dem Tod, ist aber innerlich mit sich im Reinen. Wer will mit 32, mitten im Leben, schon sterben? Sie hat fast keine Haare mehr, ist ganz mager geworden.
Der Abschied ergreift jetzt die ganze Elke, ihren Körper, die Körperfunktionen, von denen immer mehr ausfallen, das Fühlen. Heute kann sie den Arm noch heben, am nächsten Tag geht das nicht mehr. Das macht ihr schwer zu schaffen. Sie ist schmerzfrei, kann klar denken bis zum Schluss.
Elke wird liebevoll gepflegt – rund um die Uhr. Sie erlebt Hilflosigkeit und zugleich viel Zärtlichkeit von denen, die für sie sorgen. Ihre grünen Augen funkeln noch immer, wenn ich komme. Elke wächst geistig über sich hinaus, ihre Persönlichkeit reift, während ihr Körper mehr und mehr verfällt. Ihr letzter Satz ist: „Stärker als alles andere ist der Himmel in mir, die Liebe, die es sich darin gemütlich macht.“
Mit einem Lichterritual an Elkes Totenbett im Hospiz nehmen die engsten Freunde und Familienmitglieder Abschied. Ich gestalte es in Elkes Sinn. Ich trauere um sie. Zugleich ist mein Herz erfüllt mit einem wohligen Gefühl des Verbundenseins und der Gewissheit: Es ist gut so, wie es ist.
Silbermond – Leichtes Gepäck
Jeder weiß es, keiner tut es – oder doch – sich erleichtern von all den unnützen Dingen, die man im Leben so anhäuft. Das letzte Hemd hat keine Taschen… Daran denkt Silbermond erst Mal nicht, der Song hat es aber in sich…
Silbermond: Leichtes Gepäck in:
Copyright Foto: Lisa Freund
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