Selbstbestimmung bis zuletzt?

Gedanken über selbstbestimmtes Leben und Sterben

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Das Wort Selbstbestimmung ist in; ein Sympathieträger. Zusammen mit Sterben und Tod wird damit am ehesten das Thema Sterbehilfe bzw. der Suizid, assistiert oder als Freitod, verbunden. Einige ketzerische Fragen zum Thema seien erlaubt: Bestimmen wir selbst wann, wo und wie wir gezeugt und geboren werden? So gefragt wird klar: Selbstbestimmung hat ihre Grenze, auch natürliche. Wir können selbst bestimmt handeln günstigenfalls, wenn wir erwachsen, zurechnungsfähig, frei sind und günstige Umstände walten. Selbstbestimmung setzt das freie, selbstverantwortliche Individuum voraus. Dieses Bewusstsein haben wir in den westlichen Gesellschaften erst seit der Aufklärung. Der folgende, ausführliche Artikel von Lisa Freund, beginnt theoretisch und wird dann ganz praktisch.

Selbstbestimmung bis zuletzt?
Gedanken über selbstbestimmtes Leben und Sterben

Wir sind nicht menschliche Wesen, die spirituelle Erfahrungen haben.
Wir sind vielmehr geistige Wesen, die menschliche Erfahrungen machen.
Teilhard de Chardin

Von Lisa Freund

Gewöhnt an demokratische Verhältnisse haben wir den Anspruch selbstbestimmt zu leben. Wir haben Persönlichkeitsrechte, wollen uns individuell entfalten, unsere Privatsphäre schützen und frei sein. Das wünschen wir uns in unserem Leben bis hin zum Sterben.
Die Demokratie, die wir als Staatsform gewählt haben, dient dazu, die Rechte des Einzelnen und der Gemeinschaft zu regeln und zu schützen. Persönliche Entscheidungen fällen wir im Kontext individueller (z.B. biografischer) gesellschaftlicher, kultureller, religiöser und historische Rahmenbedingungen. In diesem Spannungsfeld gibt es Selbstbestimmung. Dort, wo ich die Grenzen anderer oder geltende Regeln verletze, endet meine Autonomie. Das hat Folgen, z.B. rechtliche. Wer einen ärztlich assistierten Suizid durchführt oder in kommerziellem Rahmen einen Suizid herbeiführt, verstößt derzeit in Deutschland gegen geltendes Recht. Darüber wurde bis November 2015 heftig diskutiert.

Exkurs: Ethische Grundlagen modernen Denkens
Aristoteles hat in seiner „Ethik“, das Recht des Menschen auf Glück formuliert. In der Ethik von „ethos“  (Sitte, Gebrauch, Gewohnheit) haben wir eine philosophische Disziplin, die sich mit der Gesamtheit sittlicher Normen und deren Auswirkungen auf menschliches Denken und Handeln befasst.
Die Vernunft ist die treibende Kraft. Ohne Vernunft, keine Ethik. Die Gemeinschaft, das Staatswesen etabliert Werte und Regeln, die für alle freien Bürger gelten. Sie basieren auf Ethik. Ethik ist eine auf vernunftgesteuerter Einsicht basierende Gewissenschulung, die fit macht fürs Handeln, das situationsbezogen erfolgt. Wer in diesem Sinne ethisch oder tugendhaft handelt, wird ein gutes, glückliches Leben führen. Er hat Verstandes- und Charaktertugenden entwickelt und gelernt, Begierden, Emotionen und darauf basierende Handlungsimpulse auf dem Hintergrund allgemeingültiger sittlicher Regeln zu regulieren. Das demokratische Staatswesen wird die Entfaltung des menschlichen Glücks und ein gutes Leben ermöglichen (allerdings nur für eine kleine Elite), solange es ein ethisches und vernunftorientiertes geistiges Fundament hat. Im Zusammenleben wird Ethik ganz praktisch, sie drückt sich aus in Moral. Die ethischen Werte werden in der Antike nicht bezogen auf die Entfaltung des Individuums und dessen Selbstbestimmung.

Das mittelalterliche Weltbild – eine Regression?
Die mittelalterliche Ethik basiert auf den christlichen Werten, wie sie in der Bibel, z.B. in den zehn Geboten dargelegt sind. Sie hilft dem Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies ein tugendhaftes, gottgemäßes Leben zu führen. Die Versuchung oder die triebgesteuerten Verhaltensweisen des Menschen, das Teuflische, soll mit Hilfe der Moral, basierend auf christlichen Werten, unter Kontrolle gebracht werden. Wichtiger als die Vernunft ist der Glaube. In diesem dualistischen Weltbild wird der Mensch nicht als Individuum gesehen. Er ist das Kind Gottes. In der hierarchisch gegliederten, feudalen Ständegesellschaft hat jeder den Platz, den er verdient. Selbstbestimmung ist kein Thema, denn es gibt das Individuum nicht, das selbst bestimmt handeln könnte. Der Umgang mit Sterben und Tod ist das Terrain der Kirche. Sie schafft auf christlicher Ethik basierende Moral. Es galt: Wer Suizid beging, erhielt kein Grab auf dem Friedhof und keine christliche Trauerfeier, da er eigenmächtig, entgegen Gottes Willen, gehandelt hatte. Wie ein Mensch starb, lag in Gottes Hand. Der Arzt half lediglich mit Medizin gegen körperliche Symptome.

Der Mensch von der Aufklärung bis heute
Mit der Aufklärung kam der Zerfall des mittelalterlichen Weltbildes und infolgedessen des Ständestaates. In der Bill of Rights 1871, dann in der Französischen Revolution 1789, später in der UN-Charta von 1948/49 und in der EU ab 2000 wurden die unveräußerlichen Rechte des Menschen als verbindliche Leitlinien für das Zusammenleben in modernen, demokratischen Staaten formuliert. Seither gilt, die Würde des Menschen ist unantastbar, und zwar bis zu seinem Lebensende, auch wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen.
Parallel zu diesem Prozess geschieht die Trennung von Kirche und Staat, Glaube und Politik. Der Prozess der Säkularisierung ermöglicht die Entfaltung von Wissenschaft und Technik, den Aufschwung des naturwissenschaftlichen Denkens, die Individualisierung. Der Mensch entdeckt sich selbst als einzigartiges Wesen mit unveräußerlichen Rechten, aber auch Pflichten gegenüber der Staatsgemeinschaft, in der er lebt. Es gibt die Idee vom Gesellschaftsvertrag, den der Einzelne mit der Gemeinschaft hat, in der er Bürger ist. Selbstbestimmung wird zu einem zentralen politischen Thema, ist verknüpft mit der Vorstellung der Selbstentfaltung eines freien Individuums. In der Aufklärung wird auf antikes Denken zurückgegriffen, verknüpft mit neuen Vorstellungen wie die von den unveräußerlichen Persönlichkeitsrechten jedes Menschen.
In dieser Tradition stehend, hat die Bundesrepublik die allgemeingültigen Menschenrechte 1949 in die Verfassung in Form der Grundrechte aufgenommen.

Ethik am Lebensende – heute
In der Gegenwart sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir sagen können: Wir wollen würdevoll und selbstbestimmt leben bis zu unserem Tod. Die Gesellschaft hat, für jeden die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Die Politik steckt den Rahmen ab. Das ist nicht einfach und teuer angesichts des Zerfalls der Groß-, teilweise auch der Kleinfamilie, dem Trend zur Patchwork- oder Wahlfamilie und zum Singleleben, der Individualisierung und dem Zwang zur Berufstätigkeit zwecks Lebensunterhaltssicherung. Wir sind herausgefordert, bedürfnisgerechte Lösungen für die Versorgung von Menschen in der letzten Lebensphase zu finden, die Angehörige und Freunde entlasten bzw. ersetzen. Dies muss von allen Bürgern, auch Dienstleistern und Institutionen, bewältigt werden. Wir benötigen dazu Einrichtungen wie Krankenhäuser, Pflegeheime, Hospize, Palliativstationen und ein bedürfnisgerechtes, differenziertes ambulantes Versorgungssystem. Dafür brauchen wir eine solide Finanzierung und sinnvolle Strukturen. Ethische Maßstäbe im Umgang mit Hilfesuchenden benötigen wir, damit deren Persönlichkeitsrechte und Freiheiten respektiert werden.
Der Nationale Ethikrat hat eine bemerkenswerte Stellungnahme unter dem Titel „Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende“ im Jahr 2006 formuliert. Er überträgt den Verfassungsanspruch und die Inhalte der Menschenrechte auf Pflegebedürftige und Sterbenskranke. Bedeutsam ist auch die „Charta der Rechte hilf- und pflegebedürftiger Menschen“ vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und dem Bundesministerium für Gesundheit aus dem JAHR 2010. Diese „Charta soll Leitlinien für die Menschen in Institutionen sein, die Verantwortung in Pflege, Betreuung und Behandlung übernehmen“ (Präambel). Es geht darin um die Würde der Schwachen, ihren Schutz vor körperlicher und seelischer Gewalt und Vernachlässigung sowie unsachgemäßer medizinischer und pflegerischer Behandlung. Hingewiesen wird auf die Achtung der Privat- und Intimsphäre, den achtsamen Umgang mit Schamgefühlen, medizinische und pflegerische Aufklärung, das Recht des Einzelnen auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten in seinem Lebenszusammenhang und vieles mehr. Das sind ethische Leitlinien, die in unserer leistungsorientierten Gesellschaft einen respekt- und würdevollen Umgang mit Menschen einfordern, die schwach und hilfsbedürftig sind.

Selbstbestimmt sterben – wie geht das?
Den Tod können wir heute zwar aufschieben mit Hilfe lebensverlängernder Maßnahmen. Diese können ein Segen sein, wie z.B. ein Herzschrittmacher oder Stands und Bypässe. Wir erhalten mit Hilfe des rasanten medizinischen Fortschritts geschenkte, wertvolle Lebensjahre, werden älter als früher. Die Kehrseite ist, wir sind auch zu sinnloser Sterbensverlängerung in der Lage, z.B. mit Hilfe künstlicher Beatmung oder Nahrungszufuhr. Auf diesem Hintergrund ist die Patientenverfügung entstanden, in der wir uns vor Lebensverlängerung auf Teufel komm raus schützen können.
In der Regel wollen wir ein gutes Leben und selbstverständlich auch einen guten Tod. Hierzu gehören die Freiheit von der Geißel der Schmerzen und der Anspruch auf Selbstbestimmung bis zuletzt. Das ermöglichen uns u.a. die Palliativmedizin, aber auch die juristische Anerkennung des persönlichen Willens, niedergelegt im Testament und der Patientenverfügung /Vorsorgevollmacht/Betreuungsverfügung sowie alles, was mit Vorsorge zu tun hat, also auch eine Bestattungsplanung oder ein spirituelles Testament.
Bei allen modernen Möglichkeiten im Umgang mit dem Tod vergessen wir oft „ … die Beherrschung des Todes liegt nicht im Horizont menschlicher Handlungsmöglichkeiten.“ (Ethikrat, S. 14).

Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbestimmung bis zuletzt
Wenn wir selbstbestimmt handeln, übernehmen wir Verantwortung für uns. Wir tun das immer in gesellschaftlichen Kontexten, z.B. in der Familie, deren Unterstützung wir benötigen, nach der Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung, in Absprache mit unserem Arzt, wenn wir Entscheidungen über die Behandlung fällen müssen oder die Vorsorge regeln. Wir haben einen Anspruch auf kompetente Beratung, damit wir diese Verantwortung für unser Leben bis zuletzt übernehmen können
Selbstbestimmung geschieht unter diesen Umständen unter einem gewissen Druck, denn wir haben die lebensbedrohliche Erkrankung oder den Tod als Ende des Lebens nicht freiwillig gewählt, auch können wir nicht darüber entscheiden, wie lange wir leben werden, es sei denn wir wählen den Freitod.
Es gilt: Selbstbestimmung hört auf, wenn wir unser Schicksal nicht mehr in der Hand haben.
Erlaubt sei eine ketzerische Frage: Kann man das Schicksal jemals in den eigenen Händen haben? Ist es nicht per se unkontrollierbar? Oder wie Rilke es ausdrückt: „ …Wir alle fallen. Díese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“ Werden wir selbstbestimmt geboren? Oder ist das Zusammenspiel der Organe in unserem Körper selbstbestimmt? Atmen wir selbstbestimmt? Zur menschlichen Existenz gehört, dass wir einen großen Teil dessen, was Leben ist, nicht in der Hand haben und das gilt auch für das Sterben.
Wenn der Tod naht, können wir verfügen, dass wir unter bestimmten Umständen den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen wünschen. Wir können um eine Höherdosierung von Schmerzmedikamenten bitten und dabei eventuell eine Verkürzung der Lebenszeit in Kauf nehmen. Wir dürfen uns auch ein Medikament bringen lassen, das uns tötet, müssen den Suizid jedoch ohne Zutun eines Arztes oder anderer Menschen begehen. Die Selbstbestimmung muss sich also im Rahmen der natürlichen und gesetzlichen Möglichkeiten bewegen.

Wandel der Werte
Angst vor unwürdigem Sterben und dem Tod entwickeln auch gesunde Menschen: Wer gesund ist, fürchtet den Autonomieverlust auf der Basis der gerade vorhandenen Freiheiten. Wir haben gerade jetzt Vorstellungen davon, wann eine Leben nichts mehr wert ist und wann es noch wertvoll ist. Wenn dann die letzte Lebensphase kommt, verändern sich Wertvorstellungen. Ein Mann macht die Erfahrung, dass es die kleinen Dinge sind, Momente des Glücks, ein Lachen, der Vogel auf dem Balkongeländer, der Sonnenstrahl im Gesicht, der zeternde Enkel auf dem Bett, die das Leben lebenswert machen. Seine innere Wahrnehmung hat sich gewandelt. Er urteilt anders als früher. Er ist schmerzfrei und sagt sinngemäß. „Es geht mir um das Genießen, das Genießen von dem, was noch geht, die Lebensfreude. Wenn es dann aus ist, geht das nicht mehr. Das Medikament, mit dem ich mich töten kann“, er zeigt es mir, indem er die Schublade des Nachschränkchens öffnet, “habe ich, doch ich werde mich wahrscheinlich nicht umbringen. Wozu auch? Noch hat das Leben mir was zu bieten. Ich nehme es mit, bis nichts mehr geht. Aber ich will immer die Wahl haben, selbst entscheiden können.“
Wir wissen, wenn Fürsorge und Pflege empathisch und sachkundig sind, Schmerzfreiheit eintritt und die Lebensqualität wieder steigt, dann gibt es für die meisten von uns keinen Grund, das Leben vorzeitig zu beenden. Hierüber gibt es wissenschaftliche Studien.
Herr Arnold beschreibt in seinem Buch „Letzte Hilfe“ die Tatsache, dass das Medikament, welches das Leben beendet, griffbereit ist, eine Entlastung für den Kranken darstellt. Er fühle sich nicht mehr ausgeliefert, habe theoretisch die Möglichkeit, es zu nehmen, könne es aber auch bleiben lassen. Die Mehrzahl der Menschen nimmt es nicht ein. Wozu dann das Mittel im Schrank haben? Es ermöglicht Entscheidungsfreiheit und die entlastet im Sinne von: Ich habe das Gefühl selbst bestimmen zu können, wann mein Leben endet, bin gelassener, weil das Medikament im Nachtschrank ist. Auf diese Weise trägt der Todescocktail zum Geistessfrieden bei. Kann man etwas dagegen haben?

Selbstbestimmt Hin-übergehen – Wie geht das?
Beim Sterben wie im Leben geht es auch um Vertrauen. Es ist das Gegenmittel zur Angst. Damit sind wir bei den inneren Einstellungen, Haltungen angelangt. Wenn ich den Tod als Übergang oder Wandlung sehe und davon ausgehe, es gibt so etwas wie einen kontinuierlichen Bewusstseinsstrom oder die Energie geht, der Körper bleibt zurück, bzw. wenn ich einen Glauben oder Vorstellungen habe vom Lebensübergang, dann kann ich mich gedanklich und emotional damit verbinden. Der Körper zerfällt und ich bereite mich geistig-seelisch auf die Wandlung vor, indem ich auf meine ganz persönliche Weise in sie hineinwachse. Wie soll das gehen? Ich lasse mehr und mehr los von den Bindungen an die äußere Welt, richte den Blick nach innen, berühre das unerschöpfliche Potenzial in mir und habe weniger Angst. Das ist eine andere Form der Selbstbestimmung. Sie geschieht in meinem Bewusstsein und basiert auf einer guten Symptomkontrolle im Rahmen der palliativen Versorgung, die heute möglich ist.
Vielleicht entscheide ich mich für eine spirituelle Methode, die mich öffnet für die Erkenntnis, dass ich in Wahrheit ein geistiges Wesen in einem menschlichen Körper bin. Dann darf ich noch eine Vision haben, danach streben, das in mir zu nähren und wachsen zu lassen, was den Körper überlebt. Ich kann Menschen an meine Seite holen, die mich auf diesem Weg stützen und begleiten.
Ein sterbenskranker Mensch kann, wenn er von seiner persönlichen Vision ergriffen ist, körperlich unsäglich schwach, doch geistig viel stärker sein als der Besucher, der kerngesund, gerade vom Joggen kommt und sich neben dem Bett niederlässt. Es gibt außergewöhnliche Bewusstseinserfahrungen, die heilsam sind. Es gibt das nicht Fassbare, dem der Sterbenskranke vielleicht näher ist als wir. So gesehen, ist die letzte Lebenszeit, wenn die Symptomkontrolle gelingt, gerade besonders wertvoll. Wir können, äußerlich verfallen, innerlich reifen.
Manche Menschen haben Wahrnehmungen, jenseits der materiellen Welt. Sie sehen einen Verstorbenen, der sie abholt oder einen Engel am Fußende des Bettes oder ein Licht, das sie einhüllt. Neben dem Seelenschmerz, weil wir geliebte Menschen und die Welt verlassen müssen, kann sich eine Perspektive in uns offenbaren, die wir nie für möglich gehalten hätten, die in eine andere Dimension von Erfahrung führt.
Zum Sterben gehören Kontrollverlust und Hilflosigkeit, aber auch besondere Erfahrungen von Verbundensein, denn Sterben und Tod gehen über den menschlichen Horizont hinaus. Ist es da nicht sinnvoll, diese Gedanken oder inneren Bilder in uns zuzulassen und wenn wir sie erleben, die Hilflosigkeit, sei es als Sterbenskranker oder als Angehöriger, auszuhalten oder so zu nehmen, wie sie ist oder uns sogar mit dem unsterblichen Potential zu verbinden? Damit geben wir dem Unberechenbaren Raum, gestehen uns zu: Wir haben die Dinge nicht im Griff. Das entlastet. Wenn wir Hilflosigkeit und Kontrollverlust als Teil unserer Menschlichkeit respektieren oder gar die Kraft des Verbundenseins spüren und eine gute Symptomkontrolle genießen, warum sollten wir dann das Leben vorzeitig beenden wollen? Wir könnten uns auch auf unsere inneren Kraftquellen stützen, z. B. unseren glauben, Gebete, die Meditation, bewusstseinserweiternde Erfahrungen und mehr.
Mit Palliativmedizin, Patientenverfügung und allem Perfektionismus werden wir den Tod, das Sterben nicht in den Griff bekommen. Doch die Verfügungen können den Rahmen setzen für unseren letzten Weg. Wichtiger ist für mich die Erkenntnis: Wir können innere Einstellungen oder Haltungen, die wir haben, wählen und bestimmen, d.h. uns für Blickwinkel auf die Welt, eine „Weltanschauung“, eine Religion entscheiden, einen Weg, der uns neue Horizonte oder Türen öffnet, auch wenn wir nicht wissen, was kommt. Dies ist ein Ausdruck unserer Selbstbestimmung

Verschiedene Sichtweisen
Wie unterschiedlich die Sicht auf Dinge sein kann, zeigt folgende kleine Geschichte: Eine Nachbarin besucht ihre alte Freundin im Hospiz. Diese hat eine Muskelerkrankung, kann nur noch den Kopf bewegen, sprechen, klar denken und fühlen, ist ansonsten vollständig auf Pflege angewiesen. Ich treffe sie auf dem Nachhauseweg nach dem Krankenbesuch. Sie ist bleich und sichtlich aufgewühlt. „Warum gibt ihr keiner eine Spritze, damit sie sterben kann? Das ist doch kein Zustand. Das ist doch kein menschliches Leben mehr. Da ist man doch besser tot, als so eine Last zu sein für andere. Sie hat das Todes-Pulver in der Schublade. Ich hätte das schon längst genommen.“ Ich frage sie, wie die Kranke dazu stehe. „Das ist es ja, was mich so aufregt, sie sagt, sie freut sich über meinen Besuch, hat mir einen Witz erzählt und herzhaft gelacht. Sie findet alles gar nicht so schlimm. Wahrscheinlich bekommt sie Psychopharmaka. Da muss man doch was tun!“ Ich frage: „Soll man sie umbringen?“ Sie antwortet: „Das klingt hart, aber der Tod ist doch für sie eine Erlösung!“
Eine andere Nachbarin kommt: „Gestern war ich bei Frau A. Wir hatten ein wunderbares Gespräch. Ich hab ihr noch eine Engels-Geschichte erzählt. Das hat uns beiden gut getan. Sie ist ein Sonnenschein. Ich bewundere ihre Kraft.“ „Ich werde sterben“, wenn der Tod mich holt“ hat sie gesagt „und dann meinem Schutzengel mitnehmen, wenn ich gehen muss.“ Frau A. ist einige Monate nach dieser Begegnung gestorben, in Frieden, wie die Angehörigen sagen, alleine und nachts. Ob ihr Schutzengel wohl dabei war?

Mut zur Vision
Die Angst vor Hilflosigkeit beruht auf Annahmen, inneren Haltungen und Einstellungen, die wir zu einem Erleben oder einem Sachverhalt haben. Grundlage ist die Furcht, am Lebensende die Kontrolle zu verlieren, ausgeliefert, ohnmächtig zu sein. Sie äußert sich in wilden Vorstellungen, die wir nach außen projizieren. Wir stellen Forderungen, äußern den Wunsch auf Verlangen hin getötet zu werden, wollen Sicherheiten, damit wir einen Zustand nicht erleben müssen, den wir uns in unserer Phantasie schrecklich ausmalen. Wir haben heute eine Vorstellung, die morgen in der Todesnähe null und nichtig sein kann.
Es ist auch möglich, mir vorzustellen, in meiner Hilflosigkeit liebevolle Fürsorge zu erleben, oder innerlich auf meine inneren Werte, mein schöpferisches Potenzial zu vertrauen, weil es ein Ausdruck meines wahren Wesens ist, auch wenn ich unwürdig behandelt werde. Mit dieser Einstellung geht es mir gut. So erweitere ich meinen Horizont. Statt der Angst, vertraue ich auf einen sich mir vielleicht nicht erschließenden Sinn, nehme die Herausforderung an, mich wertzuschätzen, zu sehen, auch wenn ich gewindelt und gewaschen werde, bin ich eine liebenswerte Persönlichkeit. Es kann sein, es kommt anders. Bis dahin habe ich jedoch inneren Frieden erlebt, d.h. mehr Lebensqualität.
Es ist mein Körper, dem die schmerzhafte Auflösung widerfährt, geistig verbinde ich mich mit inneren Werten und schon fühlt sich die Pflege anders an, erträglich oder gar selbstverständlich. So stimme ich mich ein in den Wandel, der kommt, von dem ich nicht weiß, wohin er geht. Im Leben und im Sterben sind mein ursprüngliches Wesen oder mein Kern oder meine Seele oder wie man es nennen mag, unversehrt.
So binde ich die Vorstellung, wertvoll zu sein, nicht an das Funktionieren meines Körpers. Ich darf so sein, wie ich bin, jetzt und in der Stunde meines Todes. Ich bin wertvoll – immer. Wenn ich leide, bitte ich darum, dass mir mit Respekt und Mitgefühl begegnet wird. Das steht mir zu.
Ist das nicht eine besondere Form der Selbstbestimmung bis zuletzt? Dies ist für mich ein Weg der Verwirklichung meines Rechts auf Unversehrtheit der Persönlichkeit bis in den Tod hinein. Verinnerlichen wir diese Werte, dann gehen wir mit Sterben und Tod friedvoller um, entspannter, reifer, hoffnungsvoller. Warum nicht die Freude zulassen, die eine Vision in sich birgt, die über den Horizont dieses Lebens hinausweist?

 

Wir danken dem Netzwerk Ethik heute, das uns freundlicherweise diesen Artikel zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat. Dort gibt es eine Kurzfassung der hier gezeigten langen Version, sieh: http://ethik-heute.org/ueber-den-horizont-des-lebens-hinausschauen/

Lisa Freund
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2 Antworten

  1. 14. Oktober 2016

    […] In dem weiter unten verlinkten Dokument finden Sie eine Ethik, die sich an den Menschenrechten orientiert. Sie ist die Grundlage für den Umgang mit schwachen und kranken Menschen bis zum Lebensende. Deshalb haben wir diese Charta in den Ratgeber von Elysium.digital aufgenommen. Siehe auch: Menschenrechte und Selbstbestimmt leben. […]

  2. 15. Oktober 2016

    […] Selbstbestimmung bis zuletzt ist in einer demokratischen Gesellschaft ein wichtiges Thema. Die unantastbare Würde jedes Einzelnen gilt es demnach auch am Lebensende zu erhalten. Auf der Basis unserer demokratischen Ideale und Grundwerte entwickeln wir heute Maßstäbe für den Umgang mit Kranken, Behinderten und Sterbenden. Die Demokratie zieht ein in Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen und wirkt direkt ins Sterbezimmer hinein. Deshalb finden Sie bei uns auch ethische Grundlagentexte, die auf den ersten Blick wenig mit unserem Thema zu tun haben, auf den zweiten Blick schon …  Siehe auch: Selbstbestimmung bis zuletzt […]

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