Das Sorgen-Tagebuch: „Wie ein guter Freund, der einem zuhört“

Gemeinnütziger Verein betreibt ein Online-Tagebuch, das antwortet

Daniel Kemen, Jahrgang 1994, ist Software-Entwickler in Bad Krozingen. Ein schüchterner Mensch scheint er nicht zu sein, ist es ihm doch binnen kurzer Zeit gelungen, eine Vielzahl von Menschen für eine Idee zu begeistern. Er entwickelte die Web-Site www.sorgen-tagebuch.de, die sich an Menschen richtet, die für eine Zeit freundlicher Worte, eines guten Rates oder einer aufmerksamen Begleitung bedürfen, weil sie – wie es der Name schon sagt – Sorgen haben.

Wer nun eine dem Thema scheinbar gerechte düstere Web-Site erwartet, wird erfreulicherweise enttäuscht. Es ist eine außergewöhnlich ansprechend designte Web-Site, die mit fröhlichen Farben aber ohne gestalterische Übertreibung zum Mitmachen einlädt. Die Seite ist ein Beweis dafür, wie ansprechende Gestaltung unmittelbar Vertrauen wecken kann – und das ist gerade, wenn es um Sorgen geht, von enormer Bedeutung.

Die Website kommt so leicht daher, dass man zunächst nicht vermutet, wie viel Aufwand wohl in der Realisierung gesteckt haben mag. Was die eigens entwickelte Software angeht, ist Kemen Profi. Das ist nicht zu übersehen. Kemen und sein Team haben an alles gedacht. Mit spielerischer Leichtigkeit kann man das Tagebuch nicht nur füllen, sondern mit einer Vielzahl von Details sehr persönlich gestalten, mit Farben, dekorativen Elementen, diversen Schriftarten und vielem mehr. Aber der durchaus ernste Hintergrund geht dabei nicht verloren, was sich an Details zeigt, die möglicherweise nur wenigen BesucherInnen auffallen: etwa die heutzutage bestmögliche Verschlüsselung, mit der jede Seite und somit vertrauliche Informationen geschützt werden.

Letztlich dient dieser große Aufwand einem scheinbar einfachen Zweck: Vielen Menschen zu ermöglichen, ihre Sorgen mitzuteilen. So manchem, der über ein Problem nicht mit Freunden oder Angehörigen sprechen mag oder kann, wird es vielleicht schon helfen, sich sein Problem „von der Seele zu schreiben“. Aber – und das ist die Besonderheit des Sorgen-Tagebuchs: Ein Team von Menschen beantwortet auf Wunsch auch Fragen, gibt einfühlsam Tipps –  und das bei völliger Anonymität weder der echte Name noch die  Email-Adresse oder dergleichen müssen angegeben werden. Man kann einfach sofort loslegen.


Lieber Daniel Kemen,
Du wendest Dich mit dem Sorgen-Tagebuch an Menschen, die ein Problem haben. Welcher Art es ist, ob es um Selbstzweifel geht, um Mobbing bis hin zu Suizidgedanken, jeder Mensch kann sich beteiligen. Wie kamst Du auf diese Idee?

Die Idee zu einem Tagebuch, das antwortet, ist nicht von jetzt auf gleich entstanden. Gemeinsam mit Freunden haben wir festgestellt, dass es bei Sorgen und Problemen sehr hilfreich sein kann, wenn man jemanden zum Reden hat, und wir haben uns gefragt, was eigentlich Menschen machen, die keinen solchen Freund haben oder die sich nicht trauen über Ihre Probleme zu sprechen.

So kamen wir auf das Tagebuchschreiben und haben festgestellt, dass ein guter Freund, der einem zuhört, quasi die Rolle eines Tagebuchs, das antwortet, einnimmt – und genau damit kann dieses unglaublich viel helfen.

Daraus ist dann die Idee entstanden, dass ein anonymes Tagebuch mit moderner Technik auch um die „antwortenden Komponente„ erweiterbar ist und dass das eine gute Anlaufstelle für die Menschen darstellt, die niemanden haben oder die sich nicht trauen, über Ihre Sorgen zu sprechen.

Anfang 2015 hast Du bestimmt zunächst nur allein am Computer gesessen, programmiert und gestaltet. Dann bist du mit der Site online gegangen und es kamen die ersten ernsthaften Einträge. Plötzlich teilten Dir wildfremde Menschen Ihre innersten Sorgen und Wünsche mit. Was war das für ein Gefühl?

Da ich beruflich in der Softwareentwicklung tätig bin, war die Realisierung des Projekts tatsächlich zunächst meine Aufgabe. Ich hatte eine ganz einfache Testversion hochgeladen und wir hatten bereits nach wenigen Tagen über 50 Zusendungen. Diese positive Reaktion, die Offenheit der Nutzer und die große Nachfrage waren natürlich überwältigend. Wir hätten niemals gedacht, dass die Nachfrage nach einem solchen Angebot, was als „Gedanken-Spinnerei„ angefangen hatte, wirklich so groß sein würde und insbesondere die Resonanz auf unsere Antworten hat uns darin bestärkt, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Wir haben dies als Motivation genommen unser Angebot weiter auszubauen. Nach mehreren Monaten, einer ganzen Menge Arbeit und einigen organisatorischen Hürden haben wir dann die erste vollständige Version des Tagebuchs veröffentlicht.

Nach wie vor sind wir überwältigt, wie viel Vertrauen und Hoffnung die Menschen in uns setzen.

Wie war es als du merktest, dass Du dieses Projekt nicht alleine stemmen kannst?

Es war von Anfang klar, dass ein solches Projekt nicht als Ein-Mann-Projekt zu stemmen ist. Zum Glück waren meine jetzigen Vorstandskollegen sofort von der Idee überzeugt. Gemeinsam konnten wir dann an Konzepten und Strukturen arbeiten. Für diese Unterstützung bin ich sehr dankbar, denn ohne Hilfe wäre es unmöglich gewesen, das Projekt so zu realisieren.

Der Vereinsvorstand

Wie viele Tagebuch-Einträge erhaltet Ihr mittlerweile pro Woche?

Aktuell nehmen wir zwischen 250 und 300 Einträge jede Woche an. Die Nachfrage ist noch deutlich größer, jedoch fehlt es uns an Kapazitäten alle diese Anfragen zuverlässig gemäß unserer strengen Qualitätsstandards zu beantworten. Uns ist es nämlich ganz besonders wichtig, dass wir uns für jedes einzelne Problem eine angemesse Zeit nehmen.

Wir arbeiten bereits daran unsere Kapazitäten zu erweitern, um noch mehr Menschen helfen zu können.

Wer nutzt die Web-Site – mehr Frauen oder mehr Männer? Wie alt sind sie?

Wir haben Nutzer zwischen 12 und 87 Jahren – sowohl Frauen als auch Männer. Da ist wirklich jede Personengruppe vertreten!

Eine simple Web-Site zu bauen ist heute einfach. Aber eine komplexe Software wie in diesem Fall zu pflegen, einen Server zu unterhalten, der auch bei großer Nachfrage nicht zu langsam wird, Sicherheitszertifikate zu erwerben, Verwaltung, Öffentlichkeitsarbeit etc.pp. – das alles kostet nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Spenden-Links wie etwa mit Gooding sind eine hübsche Idee, bringen in der Realität aber meist nicht gar so viel ein. Konntet Ihr schon Privatleute und Unternehmen finden, die Euch mit Spenden unterstützen?

Wir haben tatsächlich sehr große Aufwendungen, um den Betrieb unserer Seite in der aktuellen Form aufrecht zu erhalten. Diese decken wir derzeit ausschließlich von freiwilligen Spenden der Nutzer und von interessierten Privatpersonen.

Auch der Einkauf über Spendenlinks hilft – allerdings kommt darüber tatsächlich nicht unbedingt der Löwenanteil zustande.

Du nennst Deine Team-KollegInnen, die auf die Tagebuch-Einträge antworten, Autoren.
Ist es nicht schwierig, geeignete AutorInnen zu finden? Wie findest Du heraus, ob diese Menschen die nötige Reife haben, also angemessene Antworten geben können, aber auch schwierige Situationen meistern?

Wir haben tatsächlich eine sehr große Nachfrage nach diesem Ehrenamt und haben daher mit der Zeit ein sehr ausgefeiltes und detailliertes Online-Training entworfen, das die Interessenten durchlaufen müssen. Unter der Betreuung unseres Mentoring-Teams vermitteln wir die erforderlichen Kompetenzen in kurzen Videos, mit Sach- und Übungstexten und in Form weiterer betreuter Lerneinheiten.

Ist es nicht auch bisweilen sehr bedrückend, von traurigen Erlebnissen zu erfahren? In Teams, die es häufig mit belastenden Situationen zu tun haben – von der Familienhilfe bis zum Hospiz – gibt es regelmäßig Treffen, mit der sich auch die HelferInnen gegenseitig helfen können. Gibt es das bei Euch auch?

Natürlich ist es auch eine hohe Belastung für unser Team. Sich tagtäglich mit den Sorgen und Problemen anderer Menschen zu beschäftigen, ist auf Dauer auch eine Belastungsprobe. Für uns ist es daher sehr wichtig, dass sich die Ehrenamtlichen mit dieser Aufgabe nicht alleine konfrontiert sehen. Wir sind im ständigen direkten Austausch und haben professionell angeleitete Supervisionen und Teamgespräche.

Wenn Du merkst, dass Du an eine persönliche Grenze kommst, weil Dich der Text des Verfassers oder der Verfasserin eines Tagebuch-Verfasserin zu sehr bewegt – wie gehst Du damit um? Habt Ihr auch Kontakte zu anderen Institutionen, die spezialisiert helfen können?

Es kann immer mal vorkommen, dass man beim Bearbeiten eines Textes merkt, dass man selber nicht mehr ganz objektiv an die Sache herangehen kann oder einen der Text einfach mehr mitnimmt, als er vielleicht sollte. Für diesen Fall haben wir die Möglichkeit geschaffen, dass wir teamintern einen Wechsel des Bearbeiters vornehmen können. Im Team selbst sind dann auch Fachleute aus verschiedenen Themengebieten, sodass wir hier im Zweifel auch die Möglichkeit haben, an einen echten Fachmann zu übergeben oder diesen zu Rate zu ziehen.

Ihr garantiert absolute Anonymität. Das bedeutet aber auch, dass Du niemals nachfragen kannst. Du kannst nicht selber die Initiative ergreifen und nach ein paar Tagen nachfassen und fragen: Wie geht es Dir heute? Konnte ich Dir ein wenig helfen? Hast Du einen neuen Weg gefunden, deine Sorgen zu bewältigen? Stattdessen werden viele Geschichten für immer ungeklärt bleiben. Ist das nicht belastend für Dich und Deine AutorInnen?

Das ist tatsächlich ein Fluch und ein Segen zugleich. Natürlich ist es schade, wenn ein Tagebuch plötzlich endet und man nicht mehr erfährt, wie es dem Betreffenden ergangen ist. Andersherum sichert uns diese aufgezwungene Zurückhaltung auch eine gewisse persönliche Distanz, die uns selber schützt.

Wie macht Ihr das an „kritischen“ Tagen. Gerade an Tagen der Freude wie Weihnachten oder Silvester fühlen sich bisweilen die Einsamen noch einsamer, die Traurigen noch trauriger. Habt Ihr einen Modus, wie Ihr zeitnah antworten könnt?

Viele unserer Autoren haben über die Feiertage frei und können uns daher dabei helfen die ansteigende Nachfrage zu bewältigen – da wir aber zu keiner Zeit an der Qualität unserer Antworten sparen wollen, haben wir keine direkte Möglichkeit unser Kontingent anderweitig zu erhöhen. Aktuell sind wir jedoch bei einer durchschnittlichen Antwortzeit von 25 Stunden – auch wenn diese über die Feiertage ansteigt, ist die Beantwortung immer noch recht zeitnah.

Wie geht es weiter mit dem Sorgen-Tagebuch, wie soll es sich entwickeln? Wie könnte es in fünf Jahren aussehen? Welche Angebote könntest Du Dir bis dahin noch vorstellen?

Wir arbeiten aktuell daran unser Vereinsbüro mit einer Arbeitskraft zu besetzen, um die nötigen Kapazitäten für den Ausbau unseres Angebots zu gewinnen. Wir würden unser Angebot gerne noch mehr Menschen zugänglich machen und sind daher darauf angewiesen, auch die Organisationsstrukturen mit dem Projekt mitwachsen zu lassen.

Ansonsten ist auf jeden Fall noch eine App geplant – da sind wir schon in der Konzeptionsphase!

Lieber Daniel, ich danke Dir für das Gespräch.

Ich bedanke mich ganz herzlich für das Interesse!


www.sorgen-tagebuch.de

Michael Ziegert
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