Die Glücklichen Jagdgründe – ein Beispiel für praktische Spiritualität

Die Geschichte von Herrn Renug, für den Religion Opium fürs Volk ist

stag-kellyrudland-pixabay-1764611_1920Herr Renug ist ein überzeugter Marxist und Atheist und geht am Lebensende in Resonanz mit inneren Bildern, die ihn friedlich und zufrieden stimmen. Sie haben nichts mit Religion zu tun. Er hat sich eine Vision von einem Leben nach dem Tod geschaffen, mit der er zufrieden ist. Sie gibt ihm Hoffnung. Es ist sein Paradies. Ist das spirituell oder praktische Spiritualität oder verirrt er sich in sinnlosen Illusionen?  Machen Sie sich selbst ein Bild vom Elysium des Herrn Renug.

Die Glücklichen Jagdgründe – eine Geschichte

Ich besuche Herrn Renug in einem Krankenhaus östlich von Berlin. Das sind ca. zwei Stunden Fahrt. Wir kennen uns seit Jahren. Er ist fasziniert von der Natur im Himalaya, den schneebedeckten Bergen, Steppen, Seen und den Nomaden, die in dieser unwirtlichen Region leben sowie vom tibetischen Buddhismus, den er nicht versteht. Er findet die Klöster toll, die an den Felswänden hängen und die Mönche, die dort Jahrzehnte über dem Abgrund schweben: „Das sind rauhe Burschen und Akrobaten“, meint er.

Alles ist geregelt und doch ist es nicht genug

Herrn Renugs Lebenszeit geht zu Ende. Voraussichtlich wird er das Krankenhaus nicht mehr verlassen. Als ich ankomme, sitzt er in seinem Bett und schaut verdrossen in die Welt. Er wirkt körperlich fit und ist geistig rege. Herr Renug freut sich, dass ich da bin. Auf meine Frage, wie es so geht, antwortet er: „ Also, wie du weißt, habe ich alles geregelt, absolut alles.“ Dann schweigt er und sieht unglücklich aus.

„Das Regeln der Dinge hat Monate gedauert, das Testament schreiben, meine Patientenverfügung, klären, was mit meiner Frau werden soll, denn sie muss aus dem unserem Haus ausziehen. Sie schafft das nicht alleine mit dem Haushalt ohne mich. Wir haben schon in der Stadt nach einer Wohnung in einem Seniorenheim geschaut. Sie gefällt ihr. Ich habe sie dort angemeldet. Versicherungen sind gekündigt, aus Vereinen bin ich ausgetreten. Nur von meinen Sachen zuhause, den Alben, Büchern, Jagdgewehren und -messern habe ich mich noch nicht getrennt. Auch nicht von den Hunden. Das will Adele auch nicht. Mit den Kindern und Enkeln geht nicht alles in Frieden, da gibt es noch Probleme. Die kann ich nicht lösen. Wir haben darüber gesprochen und nun ist es auch gut. Meine Enkelinnen waren hier. Sie kommen, wenn ich sie brauche, sogar aus Spanien. Das wird nicht nötig sein. Wir reden ganz offen darüber, dass ich sterben werde. Keine Tabus. Das tut schon oft weh. Aber es ist besser ehrlich zu sein, als alles unter den Teppich zu kehren. Ach ja, was du nicht weißt, ich habe noch einen Verein gegründet, hier im Krankenhaus, der Patienteninteressen vertritt. Ich will Menschen ansprechen, die an meiner Krankheit leiden. Der Chefarzt unterstützt mich. In vier Tagen ist die Gründungssitzung. Und wenn sie mich im Bett dorthin fahren müssen, ich werde teilnehmen. Das ist noch mein Vermächtnis an dieses Haus. Alles ist perfekt. Nun kann ich gehen. Ich lebe immer noch, wie du siehst.  Aber da ist noch was, das treibt mich um. Ich weiß nicht was. Irgendwas fehlt noch.“

Er ist immer noch der alte Aktivist, Pionier und Hans Dampf in allen Gassen. Ich frage ihn, was er glaubt, was nach dem Tod kommen werde, und steche in ein Wespennest. Er antwortet: „Ich bin in der DDR groß geworden und immer noch ein überzeugter Kommunist, obwohl die Partei ja nun alles andere als kommunistisch war. Ich bin ein wenig amüsiert und necke ihn: „Also die Gretchenfrage: „Heinrich, wie hältst du’s mit der Religion?“, darf man dir nicht stellen.“ „Ich bin nicht Heinrich und du bist nicht Gretchen“, meint er, womit er recht hat. Mit der Religion, halte ich es wie Marx: „Sie ist Opium fürs Volk. Ich war nie in der Kirche. Ich glaube nicht an Gott.“ Er fährt fort: „Ich wollte mal meditieren, aber das war mir zu anstrengend. Ich kann nicht immer nur rumsitzen. Da gehe ich lieber in den Wald, das gibt mir Kraft. Den Dalai Lama finde ich gut. Der ist ein ehrlicher Mensch und ein guter Politiker. Das gefällt mir.“

Visionssuche im Krankenzimmer

Herr Renug ist ein Tatmensch. Eine Weile schweigen wir. Nichts geschieht. Er geniesst die Stille. Ich frage: „Glaubst du, es geht weiter nach dem Tod?  Die Ägypter meinen, dass die Himmelsbarke kommt, dich abholt. Dann werden deine Taten in Waagschalen mit einer Feder aufgewogen. Oder glaubst du vielleicht, dass du in einen natürlichen Kreislauf eingehst, in dem deine Asche wieder Leben spendet?“

Er überlegt: “Ich glaube erst mal gar nichts. In mir regt sich was, das sagt: Bereite dich vor. Aber das hab ich doch, und zwar hundertprozentig perfekt, perfekter geht’s nicht. Er wirkt irgendwie verloren. Jetzt bist du dran, mach was!“

„Was willst du denn?“, frage ich.

„Frieden“, sagt er, „aber ich bete nicht, das ist Quatsch. Meditieren werde ich auch nicht. Bloß keine Engelsgeschichten, damit kam die Seelsorgerin gestern. Ich habe gleich gesagt, mit mir nicht.“

Mir fällt Tulku Thondups Buch ein. Zu dieser Zeit habe ich es immer dabei, um darin zu lesen, wenn ich Zeit habe. Es liegt im Auto. Ich erzähle ihm, dass der Autor darin das glückselige reine Land beschreibt, eine Art Paradies. Es wird von Buddha Amithaba regiert. Ich finde, es ist eine herrliche Beschreibung eines Gefildes der  Seligen, die buddhistischen Variante vom Elysium. Die Idee, dass ich ihm daraus vorlese, findet Herr Renug gut. Ich gehe zum Auto und hole das Buch. Er ruht ein wenig.

Zurück im Krankenzimmer, lese ich ihm daraus vor. Das Reine Land wird darin blumig beschrieben. Das gefällt Herrn Renug, wenigstens teilweise. Aber er hält viele Details für albern: Baumäste aus Lapislazuli oder Vögel, die Melodien in Form von heiligen Mantras zwitschern. Er findet die Gängelei der Vögel; das sei nicht artgemäß. Alles erinnert ihn ans Schlaraffenland, in dem Milch und Honig fließen. Ein bisschen naiv sei die Darstellung schon. „Das passt ins Mittelalter“, meint er, „nicht in den Spätkapitalismus.“

Jagen und das im Paradies?

Auf meine Frage, was ihn denn inspirieren könne, antwortet er mit leuchtenden Augen: „Mein Paradies, das sind die die ewigen Jagdgründe“. Er hat keine Probleme damit, dass sie indianischen Ursprungs und auch nicht gerade up to date sind. Auf meine Bitte, erzählt er mir von seiner Vision.

Er sieht in seinem Paradies weite Felder mit Weizen, fühlt den Wind, der über die Ähren streift und hört das sanfte Rauschen, das er erzeugt. Da ist die Wiese hinter den Feldern, die in den Wald führt. Er ist mit seinen Jagdhunden unterwegs, hat das Gewehr und sein Messer dabei. Herr Renug klettert auf den Hochsitz am Waldrand, wartet, bis die Tiere kommen. Er beobachtet mit seinem Fernglas das Wild, vor allem die Wildschweine, die auf die Wiese laufen, ein wenig weiter die Rehe. Er liebt die frühen Morgenstunden im Wald bei Sonnenaufgang, die klare Luft, die Stille. Sein Lebenselixier sind die Natur, der Wald, die Wildtiere, die Vögel. Er füttert sie im Winter, schaut, ob alles in Ordnung ist. Herr Renug kennt auch das Jagdfieber, wenn er auf der Lauer liegt, das Wild erlegt. „Doch nur, wenn es nötig ist.“

Herr Renug schwelgt in diesen Bildern. Das Herz geht ihm dabei auf. Ich möchte wissen, warum er ausgerechnet im Paradies jagen und töten will. Er antwortet ein wenig empört: „Ich bin doch Jäger, das ist mein Lebenssinn. Ich jage, weil es nötig ist, sorge für Ordnung, dafür dass die alten und kranken Tiere nicht leiden und keine Überpopulation zu Stande kommt. Das tue ich auch im Paradies, nur bin ich da ganz frei, eins mit der Natur.“ Ich finde das Jagen im Paradies absurd. „Es ist doch alles da, was du brauchst, und zwar im Überfluss!“ Er meint, ich solle nicht die Moralapostelin spielen. Das Töten von Tieren sei eben nötig. Er habe erlebt, dass auch ich Fleisch esse, und das komme von Tieren, die geschlachtet wurden. „Adeles Wildschweinbraten war doch lecker, oder? “ – dabei lächelt er verschmitzt. Ich murmele: „Ich glaube nicht, dass Indianer im Jenseits jagen.“ Er widerspricht mir.

„Jeder kann sich heute sein eigenes Paradies basteln“

Schließlich erhalte ich den Auftrag, im Internet zu recherchieren, was sich die Indianer unter den „Ewigen Jagdgründen“ vorgestellt haben. Herr Renug ist überzeugt davon, sie jagen auch, weil sie nicht von Manitu abhängig sein wollen. Sie seien Selbstversorger. In diesem Sinne sei auch er ein Nomade, ein echter kommunistischer, moderner Nomade. Deshalb mag er auch die Tibeter, die mit ihren Vieherden über die Pässe des Himalayas ziehen und ein Tier aus unterschiedlichen Gründen töten und schlachten, beispielsweise im Winter, wenn es sonst nichts zu essen gibt.

Ich habe Spaß an diesem einmaligen Auftrag. Leider ist das Laptop zuhause. Dort recherchiere ich und finde die Ewigen Jagdgründe in Google auf einer Website unter „Der Wilde Westen“. Es heißt, der Begriff „ewige Jagdgründe“ komme von den Weißen und sei vor allem ein Übersetzungsfehler, den besonders Karl May übernommen habe. Es gibt unterschiedliche indianische Paradiese. Einige nennt man „Glückliche Jagdgründe“. Jeder Stamm habe andere Jenseitsvorstellungen. Die Ceyenne zum Beispiel glauben, die Seele der Verstorbenen wandere zum Himmel über die Milchstraße in die „hängende Straße“, das Reich des Großen Geistes. Am ehesten entsprachen Herrn Renug die Comanchen. Sie glauben, die Seelen kämen in ein Tal, in dem es keine Sorgen und Schmerzen gebe und man eine Unzahl von Jagdtieren vorfinde.

Beim nächsten Besuch trage ich Herrn Renug meine Recherche vor. Er ist viel schwächer als eine Woche zuvor. Ich habe das Laptop dabei und einen Ausdruck, weil ich weiß, wie skeptisch er ist.

Er hört mir zu und ist erfreut über mein Ergebnis. Von den Comanchen hält er viel. Sie sind in den DDR-Western gut weg gekommen, die – by the way – in Ostdeutschland gedreht worden sind, was für Herrn Renug in Ordnung ist.  Er findet den Begriff „Glückliche Jagdgründe“ richtig gut und will dabei bleiben, auch schon aus politischen Gründen. Die Bezeichnung sei von den Indianern gewählt worden und stamme nicht von den Eroberern, von denen er nichts hält. Wir sind uns einig, dass es nicht so sehr darauf ankommt, was die Indianer glauben. Herr Renuk meint, er sei schließlich kein Comanche und lebe in einem anderen Zeitalter, nämlich dem Spätkapitalismus, und habe die Freiheit sich vorzustellen, was er wolle. Herr Renug sagt: „Jeder kann sich heute sein eigenes Paradies basteln. Das gehört eben zur Freiheit des Individuums.“

Es stellt sich heraus, dass er sich in den letzten Tagen öfter in die Glücklichen Jagdgründe gebeamt hat, wenn er im Bett lag und schwermütige Gedanken kommen wollten. Ihm tut die Jagd in seinem Paradies richtig gut. Herr Renug ist froh, in seinen Glücklichen Jagdgründen angekommen zu sein. Er hat eine Vision, die über dieses Leben hinausführt, die ihn erfreut. Herr Renug meint, auf mich anspielend, seine „Glücklichen Jagdgründe“ seien seine Hoffnung und seine ganz persönliche Kraftquelle.
Er starb neun Tage später in Frieden. An seiner Beerdigung auf einem kleinen Friedhof am Rande eines winzigen Dorfes bliesen die Jäger des Ortes auf Ihren Hörnern das Halali. Das war ihr letzter Gruß an Herrn Renug. Die Melodie schallte über Wiesen und Felder bis in sein ehemaliges Jagdrevier hinein. Es war ein ihm würdiges Begräbnis.

 


Das erwähnte Buch ist: Tulku Thondup:Friedliches Sterben, Glückliche Wiedergeburt, Aitran, 1. Aufl. 2008, S. 265 f

http://www.windpferd.de/friedliches-sterben-glueckliche-wiedergeburt.html

 

Lisa Freund
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